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Die Schuldfrage

Ab wann ist ein Mörder ein Mörder? Und bis wohin Totschläger oder fahrlässig Tötender? Kann man genetisch so geprägt sein, dass man objektiv unschuldig ist, egal was man tut? Und wie soll die Gesellschaft mit Menschen umgehen, bei denen eine genetische Disposition zum Gewaltverbrecher schon als Kind festgestellt wird? Sind nüchterne Alkoholiker schuldfähig – und Traumata vererbbar?

All diese Fragen streifen das Problem, ob unser Leben Schicksal ist oder wir es mit freiem Willen gestalten können. Michael Scheele, Münchner Prominentenanwalt, der es selbst zu einiger Prominenz gebracht hat, geht dem im vorliegenden Buch nach, wobei er eine Rundreise durch die Wissenschaften unternimmt. Er liebt offensichtlich den ganz weiten Blick über den Tellerrand und umkreist mit Hilfe neuer Forschungsergebnisse aus Psychologie, Hirnforschung und Humangenetik das Thema individuelle Schuld in der Rechtsprechung. Auch philosophische Thesen zieht er hierfür heran.

Homo imperfectus

Schon auf den ersten Seiten macht Scheele seine Intention klar, wenn er schreibt, die Welt "wäre eine bessere, wenn es den in jeder Hinsicht unvollkommenen menschlichen Primaten gelänge, die Gewissheit von eigener Perfektion und die Überzeugung von einer autonomen, willensgesteuerten Wahlfreiheit zu reduzieren oder sogar ganz über Bord zu werfen." Dass der Autor auf eine möglichst breite Leserschaft zielt, zeigt sich in seinem Kapitel über kognitive Dissonanz – jenen unangenehmen Zustand, wenn Wahrnehmungen mit einer kognitiven Vorprägung (oft Vorurteilen und Schubladendenken) kollidieren. Scheele geht hier auf den Kachelmann-Prozess ein, auf die Querelen um Sepp Blatter und behandelt Platons Höhlengleichnis.

Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff, der wegen Bestechlichkeitsvorwürfen Schloss Bellevue verlassen musste, und Starmeterologe Jörg Kachelmann, der seit den Vergewaltigungsvorwürfen einer Expartnerin nicht mehr im Fernsehen auftritt, präsentiert Scheele als Opfer der kognitiven Dissonanz von Staatsanwälten. Um Fehlurteile der Justiz zu veranschaulichen, erörtert der Autor unter anderem die Fälle Gustl Mollath und Uli Hoeneß. Diktatoren wie Idi Amin und Josef Stalin und Serienkiller von Ted Bundy bis zu Gräfin Erzébet Báthory dienen ihm als Beispiele für Psychopathie. Etwa fünf Prozent der Bevölkerung, zitiert er Schätzungen von Neuropsychologen, sind von Funktionsstörungen im präfrontalen Kortex betroffen – einer Hirnregion, die für Empathie und moralisches Empfinden zuständig ist. Bei diesen fünf Prozent handle es sich häufig um Psychopathen; rund siebzig Prozent der schweren Verbrechen würden von ihnen begangen.

Verstand ist nicht alles

Anschaulich beschreibt Scheele, wie das Streben nach Bedürfnisbefriedigung sozial Isolierte in die Arme von Radikalen treibt, und wie die genetisch vorgegebene Neigung zu Depression oder Aggression unser Leben bestimmt. Auch auf Prägungen im Kindesalter geht er ein: Wer als Kind missbraucht beziehungsweise vernachlässigt werde, neige eher dazu, "eine krumme moralische Kompassnadel" zu entwickeln.

Zudem wendet sich der Autor ausführlich der deterministisch geprägten Hirnforschung zu, die dem Menschen mehr oder weniger jeden freien Willen abspricht. Er tendiert dazu, ihren Schlüssen im Großen und Ganzen zuzustimmen, hat aber einen differenzierten Blick auf diesen Forschungszweig. Scheele ist kein Technikfeind, doch sind ihm die manipulativen Risiken der Humangenetik und Hirnforschung durchaus bewusst.

Autobiografisches wie der Suizid seiner Zwillingsschwester nach einer Vergewaltigung, oder Scheeles Panikattacken in der Dunkeln aufgrund einer höchst unsensiblen Augenoperation im Kindesalter, geben dem Buch eine persönliche Note.

Scheele appelliert an die deutsche Rechtsprechung, indem er beklagt, dass Staatsanwälte noch immer das Unbewusste, die Erkenntnisse der Hirnforschung und den Einfluss des Genoms weitgehend ignorieren, wenn sie über individuelle Schuld befinden. Mit seinem Buch legt er eine im besten Sinne populärwissenschaftliche Streitschrift vor, in der er leidenschaftlich für ein humanistisches, wissenschaftlich orientiertes Weltbild plädiert.

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