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Make psychology great again

Der Psychologe Stuart Ritchie hält seiner Disziplin den Spiegel vor.

Etwas ist faul im Staate der Wissenschaft. So könnte man, frei nach »Hamlet«, den Tenor dieses Buchs zusammenfassen. Geschrieben hat es der Psychologe Stuart Ritchie vom King's College London, einer der Wortführer in der »Replizierungskrise« seines Fachs. Insbesondere in der Sozialpsychologie haben sich viele Befunde in den letzten Jahren als nicht oder nur bedingt wiederholbar erwiesen. Gleichwohl behandelt Ritchie Probleme, die andere Disziplinen wie Medizin, Hirnforschung oder Ernährungswissenschaft ebenso ins Mark treffen.

Das Buch beginnt mit zwei Paukenschlägen aus dem Jahr 2011, die den Glauben an die Wissenschaft erschütterten: zum einen der Betrugsskandal um den niederländischen Sozialpsychologen Diederik Stapel, der Feldexperimente zur unbewussten Wirkung von Vorurteilen dreist erfand. Zum anderen Arbeiten seines US-Kollegen Daryl Bem, der »nachwies«, dass zukünftige Gedanken die Gegenwart beeinflussen.

Diese Beispiele zeigen: Nicht nur können plausibel klingende Befunde frei erfunden sein, wenn die Kontrollmechanismen der Forschung versagen und akademische Karrieren allein von Prestige und Fördergeldern abhängen. Auch lässt sich blanker Unsinn wie Gedankenübertragung oder mysteriöse Energieströme wissenschaftlich untermauern, wenn man nur lange genug in seinen Daten herumrechnet. Dies öffnet esoterischen Pseudolehren Tür und Tor.

Nur die Menge zählt

Im ersten Teil des Buchs geht es darum, nach welchen Grundsätzen solide Forschung eigentlich funktioniert. Der US-amerikanische Soziologe Robert Merton beschrieb sie schon in den 1940er Jahren mit dem Akronym CUDOS: Das steht für Communalität (Transparenz und generelle Zugänglichkeit aller Methoden und Daten), Universalität (Unabhängigkeit von Herkunft und Weltanschauung), Desinteressiertheit (keine Agenda oder kommerzielles Interesse seitens der Forscher) sowie organisierte Skepsis (also kritisches Nachprüfen und Testen von Hypothesen).

In den vier Hauptkapiteln des Buchs zeigt Ritchie sodann auf, weshalb diese ehernen Regeln heute allzu oft gebrochen werden. Nämlich weil Betrug, vermeidbare Fehler, Vorurteile und Hype der rationalen Wissenschaft ein Schnippchen schlagen.

Die tieferen Ursachen hierfür liegen in einem »perversen Anreizsystem«, das das massenweise Veröffentlichen erstaunlicher Effekte sowie den Zitationsindex zum alleinigen Qualitätsmaßstab erhebt. Dies sorgt dafür, dass Forscher an sich dürftige Effekte aufbauschen, nach statistischer Signifikanz schürfen wie Goldgräber und überzogene Schlussfolgerungen aus ihren Studien ziehen.

Abgründe des Wissenschaftsbetriebs

Ritchie führt kenntnisreich und anhand vieler einschlägiger Beispiele aus, woran es in der Psychologie, Biomedizin und anderen Fächern hapert. Und er weist auf die fatalen Folgen dieser Entwicklung hin – von hoch gehandelten Scheintherapien, Horrormeldungen über »tödlichen Weizen« bis hin zur Inflation der »Du kannst alles schaffen«-Psychoratgeber.

Das Gegenmittel? Bessere, rationalere Anreize im Forschungsbetrieb setzen. Studien vorab registrieren. Nulleffekte publizieren statt in der Schublade verschwinden lassen. Das simple Signifikanzkriterium des p-Werts durch andere Auswertungsverfahren ersetzen. Moderne Informationstechnologie nutzen, um Verzerrung und Täuschung aufzudecken.

Ein weiterer von Ritchies Vorschlägen lautet: »Make science boring again!« Ob einem Bekenntnis zu langweiliger Wissenschaft ohne erstaunliche Befunde wirklich die Zukunft gehört, mag man bezweifeln. Es liegt womöglich zur sehr in der Natur des Menschen, das Wundersame und Erstaunliche zu schätzen.

Doch immerhin hält das Buch unserer Sensationsgier einen Spiegel vor – und ist daher auch der Zunft der Wissenschaftsjournalisten und -kommunikatoren zu empfehlen. Im Übrigen ist es in einem sehr klaren, mit britischem Humor gespickten Englisch geschrieben. Die Lektüre ist jedem ans Herz zu legen, der sich über die Gründe und Abgründe des heutigen Wissenschaftsbetriebs ein Bild machen will.

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