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»Seelenzauber«: Auch nur Menschen – die Begründer der Psychologie

Im 20. Jahrhundert entstand die moderne Psychotherapie. Was ihre Vorreiter leisteten und wo sie sich verrannten, ergründet Steve Ayan im Stil eines Romans.

Wien, 1902. In der Berggasse 19, der Praxis des Arztes Sigmund Freud, trifft sich eine illustre Gesellschaft. Rauchend diskutieren die Herren über Erfahrungen mit ihren von Neurosen geplagten Patienten. So beginnt das Buch »Seelenzauber« des Psychologen und Wissenschaftsjournalisten Steve Ayan. Es führt uns zu den Ursprüngen der Psychologie im 20. Jahrhundert. Neben Freud treten auch Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Viktor Frankl und viele weitere Figuren dieser Zeit auf. In den wissenschaftlich-historischen Stoff webt der Autor als geschickter Geschichtenerzähler ein Geflecht von Anekdoten. In den sechs Kapiteln »Das Unbewusste«, »Der Sex«, »Die Angst«, »Das Ich«, »Die Anderen« und »Der Sinn« taucht der Leser ein in das Leben und die Arbeit der frühen Psychotherapeuten – eine teils fremd anmutende Welt, die wenig mit dem heutigen Verständnis von Psychotherapie zu tun hat.

Dennoch haben die im Buch vorgestellten Persönlichkeiten die Psychotherapie geprägt. Sie wollten wissen, was die Seele des Menschen ausmacht, wie psychische Krankheiten entstehen und wie sie zu therapieren sind. Steve Ayan dreht in seinem Buch den Spieß um: Er stellt die Frage danach, was Freud und andere Vordenker antrieb. So werden die Persönlichkeiten mit ihrer Geschichte und ihren Motiven greifbar, die vom Zeitgeist durchdrungen scheinen. Die Bezüge, die Ayan herstellt, zeigen, wie eng Leben und Werk miteinander verknüpft sind.

Der zentrale psychische Mechanismus war nach Freud das Verdrängen von sexuellen Trieben ins Unbewusste. In der Psychoanalyse sollten durch freies Assoziieren seelische Widerstände bewusst und Neurosen aufgelöst werden. Doch Freud schien zu verkennen, dass die verklemmte Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts der Nährboden vieler Neurosen war – die Sexualität deshalb aber keineswegs die einzige Triebkraft der Seele sein musste.

Obwohl die Psychoanalyse Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhob, versuchten ihre Vertreter und Anhänger – allen voran Freud selbst –, jegliche Kritik an ihr im Keim zu ersticken. Wer an der Psychoanalyse zweifle, folge dabei lediglich seinen eigenen seelischen Widerständen. Ayan beleuchtet diese Tendenz der Psychoanalyse zum Dogmatismus kritisch. Er betont vor allem den literarischen Wert von Freuds Schriften. Gleichzeitig belegt er, wo Freud Tatsachen ausblendete, wenn diese nicht mit seinen Lehren vereinbar waren.

Reichlich blinde Flecke

Freuds Schüler Alfred Adler stellte in Frage, dass wirklich allein die Libido das Unbewusste beeinflusse, und fiel in Ungnade. 1907 begründete Adler die Individualpsychologie. Ihr zufolge ist es die Aufgabe jedes Menschen, ein Minderwertigkeitsgefühl zu überwinden, das ihm in die Wiege gelegt sei. Neben Psychoanalyse und Individualpsychologie entstand in dieser Zeit auch der Behaviorismus, aus dem sich später die Verhaltenstherapie entwickelte.

Nicht nur Freud, sondern auch viele weitere Protagonisten des Buchs reklamierten exklusiv für sich, die Mechanismen der Psyche durchschaut zu haben. Ayan reflektiert in Bezug auf den Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner, dass der Mensch gut darin zu sein scheint, »[…] aus Überzeugung zu glauben, was ihm Ansehen und Befriedigung verschafft«. Psychologische Theorien wurden im 20. Jahrhundert nicht selten zu Weltanschauungen oder Lebensformeln überhöht. Ihre Erfinder erscheinen mitunter geltungssüchtig. Gleichzeitig war der Anspruch an das eigene Berufsethos nicht immer der höchste. Gab es Liebesbeziehungen zwischen Arzt und Patientinnen, wurde dies kaum problematisiert. Der Ruf der überwiegend männlichen Therapeuten musste gewahrt werden – meist auf Kosten der Patienten und Patientinnen.

Patienten hatten es im 20 Jahrhundert nicht gerade leicht, viele der Therapiegeschichten im Buch hätte man sich wohl kaum ausdenken können. Im Schlusswort schreibt Steve Ayan, dass sich die Ideen von damals weiterentwickelt und diversifiziert haben. Heutzutage scheine es weniger darum zu gehen, den einen richtigen Ansatz zu finden, stattdessen gelte: »Wer heilt, hat Recht.« Auch Placeboeffekte spielten bei der Genesung eine wesentliche Rolle. Ein empathisches Gegenüber sei für den Heilungsprozess wohl sogar wichtiger als die Therapieform selbst – ein Faktor, den die meisten Ärzte und Theoretiker insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Eifer ihrer Wahrheitssuche übersehen haben.

Transparenzhinweis: Der Autor des Buchs ist Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft.

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