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Die vergessene Vielfalt

Traditionelle Nutztiere der Alpen haben sich viele Eigenschaften von Wildtieren bewahrt. Raue Witterungen, kurze Sommer und hohe Temperaturschwankungen bereiten ihnen kaum Probleme. Sie sind trittsicher, genügsam, widerstandsfähig, krankheitsresistent und fruchtbar. Außerdem verfügen sie über ausgeprägte Mutterinstinkte, weshalb es bei ihnen minimale Verluste an Jungtieren gibt. Kurzum: Diese Nutztiere sind hervorragend an ihre jeweiligen Regionen angepasst und bewähren sich schon seit sehr langer Zeit, denn ihre Geschichte begann vor rund 7000 Jahren, als neolithische Bauern über die Donau-Balkan-Route den Osten und über den Mittelmeerraum den Südrand der Alpen erreichten.

Heute jedoch sind die alten Nutztierrassen der Alpen vom Aussterben bedroht, da die Tierwirtschaft des 20. Jahrhunderts auf Ertragsmaximierung setzte und somit auf die Zucht kurzlebiger Hybride (Kreuzungen von Tieren verschiedener Zuchtlinien oder Rassen), die auf einen möglichst hohen Eier-, Milch- oder Fleischertrag getrimmt sind. Viele Bauern haben zugunsten dieser hochgezüchteten "Tiermaschinen" die Haltung traditioneller Rassen aufgegeben – wodurch ein großes Stück Vielfalt verloren ging.

Vom Feder- bis zum Borstenvieh

Der Landschaftsökologe Günter Jaritz beleuchtet diese Entwicklung aus einer kritischen Perspektive. Er setzt sich im Salzburger Pinzgau (Österreich) für die Erhaltung des Alpinen Steinschafs, der Pinzgauer Strahlenziege und der Blauen Ziege ein. Für das vorliegende Buch war er drei Jahre lang unterwegs, um Fachwissen über alte Nutztiere des Alpenbogens zusammenzutragen. Sein reich bebilderter Band präsentiert die gefährdeten Rassen und Zuchtlinien des gesamten Alpenraums. Darunter sind Rinder, Schweine, Hühner, Schafe und Ziegen ebenso wie Pferde, Esel und Hunde.

Jaritz’ Werk vermittelt einen guten Überblick über die einstige enorme Vielfalt der alpinen Nutztiere. Der Autor rückt dabei deren Zuchtgeschichte in den Vordergrund und weist anhand von Tabellen deren Bestände und Gefährdungsgrade nach. In Form von detaillierten "Steckbriefen" stellt er einzelne Rassen näher vor und umreißt ihre ursprünglichen Verbreitungsgebiete auf Karten. Das Alpine Steinschaf zum Beispiel, das ursprünglich in den Ostalpen gehalten wurde, sucht wie keine andere Schafrasse sein Futter auf höchstgelegenen, steilen Weiden des Hochgebirges. Die Provenzalische Ziege hingegen ist optimal an das mediterrane Klima mit trockenen Sommern und karger Vegetation angepasst; sie ernährt sich von Gehölzen wie der Flaumeiche sowie von trockenresistenten Pflanzen, die reich an Nähr- und Mineralstoffen sind.

Besonders erwähnenswert ist das kleinste Rind der Alpen. Das kastanienbraune bis schwarze Evolèner Vieh mit dem weißen Stirnfleck stammt aus der Schweiz und hat eine Widerristhöhe von nur 1,15 bis 1,30 Meter. Obwohl es so klein ist, bringt es 500 bis 600 Kilogramm auf die Waage. Das Rind hat einen sehr kurzen Kopf, eine ausgeprägte Muskulatur, besitzt harte Klauen und eignet sich deshalb gut dafür, steile Hochlagen zu beweiden.

Tierzüchter mit Evolèner Stier in den Alpen | Das Evolèner Vieh hat eine Widerristhöhe von nur 1,15 bis 1,30 Meter, bringt aber 500 bis 600 Kilogramm auf die Waage.

Aufgrund ihrer besonderen Qualitäten könnten die alten Nutztiere künftig wieder wichtig werden, wie Jaritz schreibt. Denn mit ihrer Urwüchsigkeit und ihrer guten Angepasstheit eigneten sie sich hervorragend für die Landschaftspflege sowie für einen nachhaltigen, sanften Tourismus. Zudem erbrächten sie passable Erträge, ohne unbedingt mit Kraftfutter versorgt werden zu müssen, wie es bei den hochgezüchteten Einheitsrassen der Fall sei. Die über Jahrtausende gezüchteten Nutztierrassen gehörten als Kulturgut zur Alpenregion.

Krankheitsanfällige "Tiermaschinen"

Auch die steigende Nachfrage nach heimischen Produkten forciere die Haltung traditioneller, heute seltener Nutztiere. Sie fänden auf regionalen Märkten regen Absatz. Zudem sei der Wert ihrer genetischen Vielfalt nicht zu unterschätzen, wie der Autor betont – insbesondere in der Hühnerzüchtung. Industrielle Zuchtstämme gingen in der Regel auf nur sehr wenige Zuchtlinien zurück und seien deswegen genetisch so verarmt, dass die Funktion ihres Immunsystems massiv eingeschränkt sei. Deshalb seien sie hochanfällig für Krankheiten, was den massiven Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung erkläre. Alte Landhuhnrassen dagegen, etwa die Appenzeller Spitzhaube aus der Ostschweiz, verfügten noch über einen umfangreichen Genpool und seien daher von Natur aus weitgehend krankheitsresistent.

"Seltene Nutztiere der Alpen" ist ein interessantes Buch, das überzeugend darlegt, welch entscheidende Rolle die traditionellen Nutztiere einst beim Vordringen des Menschen in die Alpen spielten, wie groß ehemals ihre Vielfalt war und wie stark ihr Überleben nun vom Menschen abhängt. Eine Wiederverbreitung vieler dieser Tiere hält der Autor für möglich, wenn diese nicht nur zu Erhaltungszwecken gezüchtet, sondern auch in ihrer Region auf der Alp gehalten werden.

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