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»Sensibel«: Die woke Gesellschaft

Die Philosophin Svenja Flaßpöhler liefert eine Gegenwartsanalyse einer sensiblen Gesellschaft – bleibt aber leider auf halbem Weg stehen. Eine Rezension
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Was darf man noch sagen? Warum »gendern« wir die Sprache? Wie lassen sich Vorurteile und Diskriminierung vermeiden? Die Berliner Philosophin Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des »philosophie«-Magazins, setzt sich in diesem Buch mit der sensiblen Gesellschaft auseinander.

Sie beginnt mit einer Gegenüberstellung von Johan und Jan. Johan ist mittelalterlicher Ritter – und sein Leben kreist um Gewalt. Er lebt in einer Zeit ohne Polizei und unabhängige Gerichtsbarkeit, und er nimmt sich, was er braucht. Johan raubt, vergewaltigt und mordet, nicht weil er ein besonders böser Mensch wäre, sondern weil er sich in seiner Welt nur so Respekt verschaffen und überleben kann.

Dem gegenüber steht Jan aus der Jetztzeit. Der verheiratete Lehrer und zweifache Vater legt Wert auf gewaltfreie Kommunikation. Er würde seine Kinder nie schlagen, diskutiert alles mit ihnen, teilt sich mit seiner berufstätigen Frau sämtliche familiären Pflichten. Er hat Verständnis, wenn sie keinen Sex will, nimmt Rücksicht auf andere im Handeln und Sprechen. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung sind ihm einfach wichtig.

Zum Glück, denkt man erleichtert, leben wir in Jans Zeit! Der Kontrast zwischen den Männern soll verdeutlichen, was für einen weiten Weg wir auf zwischenmenschlichem Gebiet gegangen sind. Flaßpöhler sieht in der gesteigerten Sensibilität und im Ethos der Rücksichtnahme einen kulturellen Fortschritt. Wir sind emanzipiert, emphatisch und umsichtig, weil wir eine »von Scham begleitete Affektregulation« verinnerlicht haben.

Allerdings ist fraglich, ob es die von ihr skizzierte historische Linie vom Haudrauf zur empfindsamen Seele so wirklich gibt. Beispielsweise war im 19. Jahrhundert, als Drill und Sittenstrenge dominierten, der Zwang zur Affektregulation viel größer als heute. Dennoch ging man nicht zimperlich miteinander um. Zudem schließt Sensibilität selbst Grausamkeit nicht unbedingt aus, wie etwa feinfühlige Sadisten beweisen.

Ist die Sensibilität der woken (wachsamen) Gesellschaft immer wörtlich zu nehmen? Ist es nicht vielmehr Mode geworden, sich über andere zu entrüsten und die eigene Tugendhaftigkeit zur Schau zu stellen? Man ist gerne »mütend«, wie es oft in Onlineforen heißt. Wegen der Corona-Relativierer, der unverbesserlichen Fleisch- und SUV-Fans, wegen der Ignoranten, die sich einer besseren Welt verweigern.

Moralisieren als Strategie zur Selbstaufwertung

Flaßpöhler benutzt Ideen vieler Soziologen und Philosophen, angefangen bei Norbert Elias »Über den Prozess der Zivilisation« bis zum französisch-amerikanischen Aufklärer Alexis de Tocqueville, um Phänomene der Gegenwart verständlicher zu machen. Dabei stellt sie erstaunlicherweise jedoch nie in Frage, ob der proklamierte »gute Zweck« vielleicht gar nicht der wahre ist. Moralisieren kann auch eine Strategie zur Selbstaufwertung sein.

Sind wir womöglich deshalb so sensibel, weil wir uns in einer pluralen, unübersichtlichen Gesellschaft als »gute Menschen« zu erkennen geben wollen? Geht es also nicht vielmehr um Egopflege, Status und Loyalität? Es verwundert, dass eine sonst so scharf beobachtende Philosophin diese Fragen ausklammert.

Die Autorin argumentiert ausgewogen, indem sie zeigt, wann »das Progressive ins Regressive kippt«. Den Rechten von Minderheiten und Diskriminierten Gehör zu verschaffen ist richtig, kann aber übers Ziel hinausschießen, wenn man das Augenmaß verliert. So sind etwa Forderungen wie die, Gedichte von Schwarzen sollten nur von Schwarzen übersetzt oder Transpersonen im Film sollten nur von Transpersonen dargestellt werden, ebenfalls diskriminierend, selbst wenn sie im Namen der Antidiskriminierung daherkommen.

Am Ende bleibt Flaßpöhlers Gegenwartsanalyse zwar auf halbem Weg stehen, dennoch hält sie viele bedenkenswerte Einsichten bereit.

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