»Stoische Gangarten«: Stoizismus heute
»Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.« Diese Zeile aus der Operette »Die Fledermaus« (Uraufführung 1874) von Johann Strauss (Sohn) klingt wie die lockere Formulierung einer stoischen Lebenshaltung. Und damals, in der frühen Moderne, mag ein so verstandener Stoizismus auch plausibel gewesen sein. Doch angesichts der aktuellen geopolitischen Verwerfungen und des allenthalben anzutreffenden Krisengeredes fragt man sich, was von der Philosophie der Stoa, die circa 300 v. Chr. entstanden ist, wirklich noch in unsere Zeit passt. Gelassenheit, Unerschütterlichkeit, Hinnahme des Unkontrollierbaren, innere Ruhe sind Werte, die mit der stoischen Philosophie in Verbindung gebracht werden; einem Kanon, der in Zeiten des politischen Umbruchs im antiken Griechenland entwickelt wurde.
»Stoische Gangarten« von Helmuth Lethen ist »die Erzählung einer Enttäuschung«. Sie will nicht mit »Ratschlägen zur Lebenspraxis der Gelassenheit« aufwarten, verfolgt aber Spuren der Stoa und prüft, wie man heute gelassen Leiden ertragen könne, selbst wenn Depression und Verzweiflung einen gelegentlich befielen. Typisch für das Alterswerk eines Literaturwissenschaftlers folgen Lethens Gangarten seiner lebenslangen Lektüre; allerdings geht es hier um Bücher, die der Autor unter veränderter Perspektive erneut liest – nach der Erfahrung einer Notoperation am Gehirn. Auch Lethens Blick auf sein eigenes Werk hat sich gewandelt: »Mit diesem Buch wollte ich mir die ›Verhaltenslehren der Kälte‹ von 1994 vom Leibe rücken.« Sein Buch galt damals als gewagte und zeitlose Studie, von der sich Lethen nun aber distanziert.
Vielleicht muss man Lethens Gangarten auch als Eingeständnis des eigenen Scheiterns lesen. Zwei zentrale Motive des Buchs legen diesen Schluss nahe. Das eine stammt aus Georg Büchners »Dantons Tod«, es ist der Vorwurf des Girondisten Louis-Sébastien Mercier an die Revolutionäre: »Geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden.« Lethen bemüht diesen Satz immer wieder – etwa, wenn er das Handeln Dantons und seiner Kameraden im Angesicht der Guillotine interpretiert oder Ernst Jüngers Kriegsromane und die »technische Kälte« in dessen Kriegstagebuch analysiert.
Das zweite Motiv findet sich am Ende des Buchs: »War es vermessen, dass ich mir einmal mit Nietzsche vorgestellt hatte, mit stoischer Kälte könnte man einen Freiheitsraum gewinnen? […] Die Stoa hat sich nie vom Pragmatismus der Realpolitik gelöst, utopisches Denken war ihr fremd«. Sieht Lethen sein Scheitern darin begründet, dass sich stoische Gangarten nicht mit utopischem Denken vertragen? Und dass er selbst sich ein Leben lang nicht vom Glauben an ein Sowohl-als-auch lösen konnte?
Neulektüren
Bis sich diese Frage stellt, hat der Autor seine Leser durch seine Neulektüren geführt, dabei das eigene Erleben und das daraus sich entwickelnde Lebenswerk nachgezeichnet. Wir begegnen Gustave Flauberts »Die Erziehung des Herzens« und anderen großen Romanen der Weltliteratur, aber auch Balthasar Graciáns »Handorakel und Kunst der Weltklugheit« und Helmuth Plessners »Grenzen der Gemeinschaft«. Zudem erzählt Lethen von Stationen an den Universitäten Bonn, Amsterdam und Berlin, schreibt über seine maoistische Vergangenheit und darüber, wie er sie hinter sich gelassen hat. Lethen findet Fixpunkte bei Walter Benjamin und in Friedrich Nietzsches »Morgenröthe«. Und er, der im zerstörten Deutschland unter einem »Kult der Wehrlosigkeit« aufgewachsen ist, erliegt doch recht lange der Faszination von Ernst Jünger, der Krieg verherrlichenden Literatur über Stalingrad und den Landser-Heften.
Eingestreut findet sich ein längeres Kapitel zur Entwicklung der Fotografie im 19. Jahrhundert und zum »Stoischen Fotografen« August Sander in den 1920er Jahren. Dabei verwundert, dass Lethen nur Bilder von Männern würdigt, obwohl Sander viele Frauen porträtiert hat. Gesteht Lethen Frauen Stoizismus etwa nicht zu? Dieser Eindruck verfestigt sich auch angesichts der Leseliste, in der keine Autorin zu finden ist.
An der neuen »Sachlichkeit« der 1920er Jahre kritisiert Lethen, dass die »Ungerührtheit als Ideal der Selbstdisziplinierung« selbst unter Schriftstellern zu einer »narzisstischen« Haltung wurde. In der »Amoral des Ästhetizismus« in der Moderne erkennt er zudem das »Kaltstellen der moralischen Person durch ästhetische Mittel«.
Schließlich blickt der Autor auf das aktuelle Erstarken des Rüstungskonzerns Rheinmetall und die zunehmende Waffenproduktion angesichts des Kriegs in der Ukraine und der Bedrohung durch Russland. Hier zeigt sich Lethen erstaunt über den »strukturellen Pazifismus« der heutigen Generation. In neueren Studien von Soziologen liest er vom »Schwinden des Gemeinsinns« und fragt sich – fast bedauernd –, ob eine wachsende Einsamkeit die kollektive Wehrbereitschaft heute unmöglich mache.
»Stoische Gangarten« ist komplex, eine anspruchsvolle Lektüre. Von Vorteil ist es, mit den Werken vertraut zu sein, auf die sich der Autor bezieht. Ihm gelingen einerseits Sätze von großer Klarheit und luzider Paradoxie. Gleichzeitig enthält das Buch dunkle Passagen voller Nachdenklichkeit. Es en passant zu lesen, gelingt nicht – wie etwa folgende Passage belegt:
»So bliebe am Ende der stoischen Wanderung nur noch eines ihrer Motive übrig, sich mit der Unverfügbarkeit der Geschichte abzufinden und es gleichzeitig, umhüllt vom Klang der Rüstungsindustrie, zu verhindern, sich unter dem Mantel eines intellektuellen Kults der Wehrlosigkeit zu verbergen.«
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben