»Super-GAU«: Die Katastrophe ist überall
Der Super-Gau? Der war doch in Fukushima? – Die Katastrophe in einem modernen Atomkraftwerk im März 2011 in Japan, in deren Folge radioaktive Wolken bis nach Europa wehten, kommt wohl jedem gleich in den Sinn. Auch der Tsunami, die Flutwelle, eine weitere Folge des Erdbebens, das die katastrophale Kettenreaktion damals auslöste, war für viele Menschen absolut verheerend – und dies auf lange Sicht nicht nur für diejenigen in der Region, die ihr unmittelbar ausgesetzt waren. Die Autorin Bea Davies zeigt auf berührende Weise, wie sich globale Katastrophen auch auf das Leben von Menschen auswirken, die weit entfernt vom eigentlichen Unglücksort leben.
In ihrem Buch geht es um die Schicksale von acht Menschen in Berlin. Davies verbindet deren Lebenswege so allmählich miteinander, dass sich ihr Zusammenhang erst nach und nach erschließt. Einige sind gerade in Japan auf einer Einkaufsstraße, als sie von der Flutwelle überrascht werden, andere leben in einer Berliner Notunterkunft, wohnen in Bauruinen oder kellnern gerade in einem Café. Davies lässt sich auf den 200 Seiten Zeit, die Geschichten von diesen acht Menschen ganz langsam zu entfalten. So hat der Leser auch die Muße, Details in den Zeichnungen zu entdecken – manchmal auch erst auf den zweiten Blick. Wie die Dose mit Schlaftabletten auf dem Nachttisch einer Frau, deren Mann in Japan verschollen ist, neben einem Kalender, auf dem der Jahrestag des Tsunamis zu erkennen ist. Manchmal nutzt Bea Davies aber auch die Kunst des Weglassens, um die Leser die Wucht der Ereignisse spüren zu lassen. Etwa wenn die Flutwelle auf einen Mann in einer Telefonzelle zustürzt und die nächste Seite schwarz und stumm bleibt.
Es geht um die persönlichen Super-Gaus
Die italienische Zeichnerin und Erzählerin Bea Davies begann ihre künstlerische Ausbildung an der School of Visual Arts of New York und führte sie an der Weißensee Kunsthochschule Berlin fort; Letzteres sicher ein Grund dafür, dass diese Erzählung in Berlin spielt. In früheren Werken erzählte sie etwa die vergessene Lebensgeschichte des Anarchisten Gregor Gog, der gegen Ausbeutung, Faschismus und Rassismus kämpfte und in der Weimarer Republik ein Sprachrohr für wohnungs- und arbeitslose Menschen war (»Der König der Vagabunden«). Im Magazin »strassenfeger« zeichnet sie zur Würde des Menschen und zur Obdachlosigkeit. Bei ihrer ehrenamtlichen Arbeit in einer Obdachlosenunterkunft lernt sie die Geschichten von Menschen aus aller Welt kennen und lässt vieles davon in ihre Arbeit einfließen.
Auch in diesem Buch sind es vor allem Themen aus der sozialen Unterschicht, die der Autorin wichtig sind; die Katastrophe von Fukushima bildet lediglich den Rahmen für ihre Erzählungen. Prinzipiell könnte es also auch eine andere globale Katastrophe sein, deren Auswirkungen das Leben von Menschen auf der ganzen Welt betreffen. Vielleicht wirkt daher auch der Buchtitel auf den ersten Blick etwas irreführend, aber man versteht den Ansatz der Autorin. Davies macht erlebbar, dass die Folgen von Katastrophen wie der von Fukushima weit über die Ökologie hinausgehen. Sie prägen persönliche Schicksale – überall auf der Welt. So finden die Super-Gaus eben auch im persönlichen Leben statt: wenn eine Mutter nicht aufpasst und ihre kleine Tochter fast ertrinkt; wenn Wutausbrüche in der Notunterkunft eskalieren; oder wenn der Vater weit weg in Japan stirbt, die Kinder aber in Berlin leben und nicht wissen, was mit ihm passiert ist.
Davies möchte, dass wir nicht Nachrichten konsumieren, sondern auch spüren, was die jeweiligen Ereignisse für viele Menschen ganz konkret bedeuten. Dass wir nicht einfach aneinander vorbeigehen, sondern uns bewusst machen, was in einer der Geschichten so formuliert wird: »Jeder ist ein jemand, mit einer Geschichte, die einzigartig ist. Und alles ist miteinander verbunden. Doch keiner sieht‘s. Wir bröseln auseinander wie die Sandkörner einer ausgetrockneten Sandburg«.
Dabei erzählt Bea Davies nicht nur aus den Perspektiven der acht Menschen, sie zeichnet ihre Bilder auch aus vielen unterschiedlichen Blickwinkeln. Mal von oben, mal von Weitem, mal ganz nah. Ihre wunderbaren Zeichnungen berühren. Mal zeichnet sie ohne Worte, dann arbeitet sie mit viel Text und lesenswerten Dialogen. So antwortet ein Freund einmal einem anderen, der sich darüber wundert, dass dieser einer blinden Frau die Printausgabe der Süddeutschen Zeitung kauft: »Hast du schon mal eine Zeitung mit geschlossenen Augen in den Händen gehalten. Ehrlich, du solltest das mal probieren, Nacho. Da spürt man eine Welle an Gefühlen. Neugier. Aufregung … Man fühlt sich so wunderbar verbunden. Die aktuellsten Ereignisse der ganzen Welt liegen alle auf diesem Blatt Papier in deiner Hand«.
In diesem Sinne ist auch der Buchdeckel ein Erlebnis: ein dicker Karton, auf dem der Titel »Super-GAU« tief eingeprägt ist. Streicht man mit der Hand darüber, erspürt man den Titel als Struktur. Dies ist eine sinnliche Erfahrung – genau wie die Geschichten, die Bea Davies erzählt. Ihr ist eine einfühlsame Graphic Novel über Armut und Hoffnung, Vergebung und über die Verbundenheit von Menschen gelungen. Lesens- und schauenswert.
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