»Survival of the Nettest«: Symbiose als Schlüssel zur Evolution
Auf den ersten Seiten seines Buchs entführt Dirk Brockmann den Leser in einem Gedankenspiel auf einen fremden Planeten, beschreibt die dortige Zivilisation – und man fragt sich gleich, auf welche irdische Spezies dieses Beispiel wohl hindeuten mag. Mit anschaulichen Analogien und spannenden Gedankenspielen wie diesen vermittelt der Physiker, wie wichtig Kooperation für alle Lebewesen ist.
Evolution wird oft auf Darwins »Survival of the Fittest« reduziert, das im Deutschen meist als »Überleben des Stärksten« übersetzt wird. Dabei haben nicht primär Konkurrenz und Verdrängung die Evolution vorangetrieben, sondern die jeweilige Anpassungsfähigkeit einer Spezies – die wiederum ganz wesentlich auf Kooperation basiert. Zusammenarbeit und Symbiose zwischen Organismen und Individuen, aber auch zwischen verschiedenen Spezies spielen eine Schlüsselrolle für die Entstehung der Welt, wie wir sie heute kennen.
Alle Lebewesen stehen in einer symbiotischen Beziehung mit anderen, kein Tier und keine Pflanze kann ohne diese Zusammenarbeit überleben. So versorgen etwa Mikroorganismen wie stickstofffixierende Bakterien, die sich in den Wurzeln von Hülsenfrüchten befinden, diese mit für sie lebenswichtigem Stickstoff. Diesen kleinen Organismen widmet Brockmann ein ganzes der elf Kapitel seines Buchs, auch Pilze und Viren werden ausführlich gewürdigt.
So vielfältig die Gruppe der Bakterien ist, so divers sind auch die Kooperationen, die sie eingehen. Das »Mikrobiom«, das die Gesamtpopulation der Mikroorganismen eines Wirts bezeichnet, ist in Bezug auf seine Bedeutung für den menschlichen Verdauungstrakt inzwischen sogar in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Spannend ist dabei nicht nur, wie die Symbiose zwischen Mikroorganismen und dem einzelnen Wirtsorganismus funktioniert, sondern auch, dass die Zusammensetzung des Mikrobioms bei Familienmitgliedern sehr ähnlich ist, und es durch Interaktion mit »Fremden« zu einer Erweiterung des mikrobiellen Spektrums kommt.
Viren und Pilze als wertvolle Partner
Auch Viren, die oft nur mit Krankheiten assoziiert werden, gehen Kooperationen mit komplexen Organismen ein, die sich positiv auf diese auswirken. Pflanzen werden durch einige Virenarten beispielsweise resistenter gegen Frost oder Dürre. Und auch der Mensch kann von einer Symbiose mit Viren profitieren; die »schlafende« Infektion mit einem speziellen Herpesvirus, dem Zytomegalievirus, schützt insbesondere jüngere Menschen vor einer Infektion mit Influenza.
Wie sehr Zusammenarbeit auch zu Innovation beträgt, erfährt man am Beispiel der Blattlaus, die sich als Pflanzenparasit vom Blättersaft ernährt. Die Apfelblattlaus kommt in zwei Formen vor, mit oder ohne Flügel. Welche der Formen vorkommt, hängt vom Befall mit einem Virus ab. Dieser »steuert« gleichsam, dass sich nach der ungeflügelten auch eine geflügelte Form der Blattlaus ausbildet, die zu anderen Pflanzen fliegen und sich von ihnen ernähren kann. Auf diese Weise wird einer »Überbevölkerung« einer einzelnen Pflanze entgegengewirkt – und damit dem Verhungern der Lauspopulation.
Pilze wiederum sind nicht nur Meister in der Zusammenarbeit mit verschiedenen Organismen wie Ameisen, sondern auch über unterirdische Vernetzungen maßgeblich für das Wachstum von Bäumen verantwortlich. Dank dieser Fähigkeit zur unterirdischen Verzweigung macht ein Pilz der Gattung Hallimasch auch das Rennen um das größte, schwerste und älteste Lebewesen der Welt: Mit einem Gewicht von 35 000 Tonnen und einer Fläche von etwa 8,8 Quadratkilometern findet er sich in den Bergen des US-Bundesstaates Oregon, wo er seit 2500 bis 8000 Jahren wächst.
Kleine Zeichnungen im Buch tragen zum besseren Verständnis der Erklärungen bei und machen die Lektüre kurzweilig; genauso wie die vielen anschaulichen Vergleiche, etwa wenn Brockmann die Größenverhältnisse zwischen Pflanzenzellen, tierischen Zellen und Bakterien in Relation zu Einfamilienhaus, Pkw und Suppenkelle setzt.
Auch die Kommunikation zwischen Individuen – eine der anschaulichsten Arten der Kooperation – wird thematisiert. Der Autor zeigt dabei nicht nur ihre Vielfalt, sondern betont auch, wie der Informationsaustausch über zeitliche und räumliche Distanz hinweg funktionieren kann – etwa, wenn er ein Buch schreibt, das andere Menschen dann irgendwann und irgendwo lesen. In diesem Zusammenhang tritt Brockmann auch direkt in Kontakt mit einer neuen Art des neuronalen Netzwerks: der künstlichen Intelligenz. Er schreibt nicht nur über sie, sondern nimmt auch gleich ein »Gespräch« mit ChatGPT ins Buch auf.
Solch überraschende Ansätze, wie auch das Gedankenspiel mit dem fremden Planeten zu Beginn des Buchs, machen seine Lektüre überaus interessant. Zumal sich auch für menschliche Gesellschaften die Frage stellt, inwieweit wir vermehrt auf Kooperation statt Konkurrenz setzen sollten und vielleicht sogar müssten, um unseren Lebensraum zu erhalten. Denn das zeigt Dirk Brockmann deutlich: Kooperation, nicht Konkurrenz ist in den meisten Lebensbereichen der Schlüssel zum Überleben – und Evolution vollzieht sich nur, wenn es neben Konkurrenz auch jede Menge Kooperation gibt.
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