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Patchwork-Herrscher

Unter dem Gotenkönig Theoderich erstand das römische Westreich noch einmal auf. Sein Erfolgsrezept: Integration durch Separation.

Unter den germanischen Königreichen, die in der Völkerwanderungszeit seit Beginn des 5. Jahrhunderts auf römischem Boden entstanden, sticht das Ostgotenreich in Italien unter Theoderich dem Großen (493-526) besonders hervor. Mehr als 30 Jahre lang bestand dort eine spätantike Patchwork-Gesellschaft, in der sich Römer und Goten die Macht teilten. In seinem fast 800 Seiten starken Band beleuchtet der Erlanger Althistoriker Hans-Ulrich Wiemer, wie es dem gotischen Warlord und seiner bewaffneten Gefolgschaft gelingen konnte, im Kernland des 476 untergegangenen weströmischen Reichs ein eigenes Königtum zu etablieren. Wiemer schildert die historischen Ereignisse und politischen Umstände, die zur Machtübernahme Theoderichs führten, und ergründet, wie sich die Herrschaft des Gotenkönigs in die spätantik-mittelalterliche Umbruchszeit einfügte.

Der Althistoriker zeichnet Theoderich als kaiserähnliche Herrscherpersönlichkeit, die gegenüber Ostrom weitgehend eigenständige Positionen bezog. Als Heermeister des oströmischen Kaisers Zenon (474-491) im Jahr 488 nach Italien geschickt, um dort in Zenons Namen die Herrschaft zu übernehmen, gelang es Theoderich, sein Einflussgebiet als eigenständigen Teil des Imperium Romanum zu etablieren. Dabei glückte ihm das Kunststück, einheimische Römer und zugewanderte Goten bei allen kulturellen, religiösen und ethnischen Differenzen zu einer staatstragenden Bevölkerung zu einen.

Kulturelle Vielfalt, aber kein Multikulti

Das weströmische Kaisertum war zwar obsolet geworden, dennoch blieb Theoderichs Regierungspraxis in vielerlei Hinsicht römisch. Als Bewahrer einer Reichsidee arrangierte er sich mit den einheimischen Eliten, erwies dem Senat in Rom alle Ehren, bediente sich der spätrömischen Zivilverwaltung und adaptierte römisches Recht in seinem berühmten "Edictum Theoderici", einer Zusammenstellung von 154 besonders wichtigen Rechtsvorschriften, die für Ostgoten und Römer gleichermaßen gelten sollten. Andererseits schafte er es, seine kriegerische Gefolgschaft ins Reich zu integrieren, indem er ein aus Goten rekrutiertes stehendes Heer schuf, das die militärische Stütze des Staatswesens bildete. Sein auf Ausgleich zwischen Römern und Goten bedachtes Agieren ermöglichte es ihm, "zwei Völker wie eines zu regieren", etwa indem er den konfessionellen Gegensatz zwischen katholischen Römern und arianischen Goten entschärfte und eine tolerante Religionspolitik praktizierte.

Wiemer singt dennoch nicht das Hohelied der multikulturellen Völkerverständigung, wie dies manche seiner Kollegen tun. Er sieht Theoderichs Herrschaft vielmehr als nüchtern-pragmatische Vernunftehe. Der Ostgotenkönig habe es verstanden, beide Völker in einer "klugen Arbeitsteilung" auf Abstand zu halten, in dem er den Römern den zivilen, den Goten den militärischen Part zuwies. "Integration durch Separation" sei seine Herrschaftsmaxime gewesen. Hier wuchs nicht zusammen, was zusammengehörte, sondern es entstand angesichts der politischen Großwetterlage ein Zweckverband. Dieses Miteinander im Nebeneinander sei typisch für Theoderichs Ägide gewesen. Außenpolitisch vermochte es der Gotenkönig, seine Herrschaft über die italische Halbinsel durch eine geschickte Heirats- und Bündnispolitik mit den übrigen Germanenreichen (Franken, Westgoten, Burgunder und Vandalen) auszubauen und sich zeitweise von Ostrom zu emanzipieren.

Die Schwäche ausgenutzt

Die ostgotische Herrschaft in Italien sollte dennoch Episode bleiben. Wie fragil sie tatsächlich war, zeigten die Ereignisse nach Theoderichs Tod. Als der König 526 n.Chr. starb, zerbrach auch die stark auf seine Person zugeschnittene römisch-gotische Vernunftehe. Mit dem frühen Tod seines Sohns und bald darauf auch seines Enkels schwand nicht nur die Hoffnung, Theoderichs dynastische Legitimität auf Nachfolger zu übertragen, sondern auch der Rückhalt des gotischen Kriegeradels. Diese Schwäche nutzte Ostrom, das seit der Regierung Kaiser Justinians (527-565) wieder eine aktivere Außenpolitik im Westen betrieb, zur Rückeroberung Italiens.

Wiemers brillant geschriebenes Buch ist eine tiefschürfende Studie über die machtpolitischen Transformationsprozesse einer Schwellenzeit. Darüber hinaus beleuchtet es das Werden und Vergehen sozialer Gruppen, die ins spätantike Imperium Romanum eindrangen und zur Entstehung des frühmittelalterlichen Europas beitrugen. Der Band setzt Maßstäbe für künftige Publikationen zu diesem Thema.

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