Konstruierte Zeit
Eine Stunde dauert 60 Minuten, eine Minute lässt sich in 60 Sekunden zerlegen. So weit alles klar. Doch wieso kommt uns eine Stunde beim Zahnarzt länger vor als die letzte Stunde vor der Deadline? Wieso vergeht die Zeit im Urlaub schneller als zu Hause? Und wie gelingt es dem Gehirn überhaupt, Zeitspannen einzuschätzen? Den Antworten auf diese und weitere Fragen ist die britische Psychologin und Wissenschaftsjournalistin Claudia Hammond in ihrem Buch auf der Spur.
Hammond ist eine erfahrene Autorin populärwissenschaftlicher Bücher, und so ist auch ihr jüngstes Werk gewohnt informativ und unterhaltsam. Anhand teils spektakulärer Studien und Fallbeispiele sowie eigener Erfahrungen schildert sie, wie unser Gehirn die Zeit aktiv konstruiert und wie es sich dabei von unseren Emotionen, dem Gedächtnis, der Aufmerksamkeit und unserem aktuellen Zustand beeinflussen lässt. So scheinen sich angsterfüllte Momente schier endlos auszudehnen, was der Base Jumper Chuck Berry eindrücklich am eigenen Leib erfuhr, als sich sein Gleitschirm bei einem Sprung aus höchster Höhe in seine Einzelteile zerlegte und er ungebremst auf die Erde zuraste (es gelang ihm im letzten Moment, den freien Fall zu stoppen). Bei hohem Fieber, Langeweile und bei Depressionen ziehen sich die Stunden subjektiv ebenfalls in die Länge. Dagegen vergeht die Zeit schneller, je bewusster man einen Moment wahrnimmt, was zum Beispiel kleine Kinder häufig erleben, wenn sie in ein Spiel vertieft sind.
Zeitfluss – von wo nach wo?
Wir erleben die Zeit offenbar je nach Kultur und Sprache unterschiedlich. So haben viele Menschen das Gefühl, die Zeit fließt. Doch in welche Richtung? Wer Englisch spricht, hat eine starke Verbindung zwischen dem Wort »Vergangenheit« und einer Position auf der linken Seite, haben Psychologen entdeckt. Entsprechend nehmen sie die Zeit als Fluss von links nach rechts – in Richtung Zukunft – wahr. Menschen, die Mandarin sprechen, deuten dagegen häufiger nach oben, wenn sie frühere Ereignisse verorten sollen, und nach unten, wenn es um die Zukunft geht. Ihre Zeit fließt also von oben nach unten, genau in die Richtung also, in der Mandarin lange gelesen wurde.
Das Buch ist dicht gepackt mit Informationen und Erkenntnissen aus der Wissenschaft und doch nie langweilig. Das erreicht die Autorin unter anderem durch kleine Denkaufgaben. So gibt es zum Beispiel auf die Frage »Wenn das für Mittwoch angesetzte Meeting um zwei Tage nach vorne verlegt werden muss: An welchem Tag findet es statt?« zwei mögliche Antworten, je nachdem wie man die Zeit wahrnimmt. Zuletzt gibt Hammond nützliche Tipps, wie wir unser Zeiterleben aktiv beeinflussen können. So lernen die Leser etwa, die Zeit langsamer oder schneller vergehen zu lassen, in weniger Zeit mehr zu schaffen oder sich besser an einzelne Zeitpunkte in der Vergangenheit zu erinnern. Trotzdem bleibt am Ende eine klare Erkenntnis: Die volle Kontrolle über unsere Zeit werden wir wohl nie erlangen.
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