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»Trigger, Trauma, toxisch«: Ein Kompass für die Mental-Health-Welt

Nahbar und beeindruckend scharfsinnig klärt Lukas Maher über Mental-Health-Irrtümer auf. Seine Analysen bieten wertvolle Orientierung im boomenden Psychomarkt.

Psychotherapeut Lukas Maher widmet sich einem sehr aktuellen Thema: den geflügelten Mental-Health-Begriffen, die einem im Alltag und insbesondere auf Social-Media-Kanälen immer häufiger begegnen. Er beginnt mit einem »Kompass für die Psycho-Welt«, in dem er die Unterschiede zwischen Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie, Heilpraktikertätigkeit und Coaching verdeutlicht. Im Weiteren schreibt er über Konzepte, die dem heutigen Ohr besonders vertraut sind – von »Big Five« über »Das innere Kind« bis hin zu »Darm-Hirn-Schranke« und »Neurodiversität«. Präzise und differenziert erläutert er ihre wissenschaftlichen Grundlagen und geht der Frage nach, in welchem Rahmen sie sich angemessen verwenden lassen.

Dies tut er auf eine Weise, die nicht immer bequem ist; zumindest nicht so bequem wie die einfachen Antworten, die viele dieser Konzepte zu ermöglichen scheinen. Lukas Maher sträubt sich gegen den Einsatz simpler Erklärungen dort, wo kleine Unterschiede Gewicht haben. Nahbar und verständlich führt er an die Komplexität der Mental-Health-Welt und unserer Psyche heran. Er legt Wert auf Zwischentöne, wo allzu oft Schwarz-Weiß-Denken dominiert. Etwa bei der Benennung verschiedener Bindungsstile. Diese seien gar nicht so leicht voneinander zu unterscheiden und vor allem nicht unveränderlich. Oder bei den »Sprachen der Liebe« – ein Konzept, das, so betont Maher, einige »Sprachen« auslasse.

Bei einigen Ansätzen verzichtet Maher auf eine endgültige Bewertung – schlicht, weil dafür die Grundlage in Gestalt valider wissenschaftlicher Forschung fehle. Die massive Präsenz vieler Mental-Health-Konzepte etwa auf Social-Media-Kanälen stehe oft im Widerspruch zum Umfang seriöser Forschung zu diesen Konzepten; beispielsweise bei der Frage, welchen Einfluss Probiotika auf Depressionen haben können. Angesichts solcher Diskrepanzen wird der Ton des Psychotherapeuten manchmal zynisch oder auch ein wenig wütend. Sein Stil steht mitunter im Gegensatz zur beschönigenden und beruhigenden Sprache, die einem im Mental-Health-Kontext oft begegnet. Maher scheut Konflikte nicht. Die Fähigkeit zum »(empathischen) Konfrontieren« kennzeichnet auch eine gute therapeutische Beziehung, erklärt er. Diese Fähigkeit wird auch in seinem Buch spürbar.

Anwalt der Betroffenen

Immer deutlicher wird einem beim Lesen, dass Konflikt und kritische Aufklärung beim Thema psychische Gesundheit notwendig sind – und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil dieses Thema so sensibel ist. Man kann die Empörung des Autors angesichts allzu seichter »Erklärungen« nachempfinden und versteht zugleich, dass es ihm nicht darum geht, irgendjemanden schlechtzumachen. Auch steht für ihn nicht nur im Vordergrund, dass Fachleute eine langjährige Ausbildung durchlaufen haben, während sich in einer profitorientierten Pop-Psychologie selbst ernannte Experten und Expertinnen profilieren, ohne die Grenzen ihrer Angebote in angemessener Weise zu kommunizieren. Maher zeigt sich in erster Linie als Anwalt derjenigen, die von psychischen Erkrankungen betroffen sind. Ihr Leiden werde, so der Autor, durch den inflationären Gebrauch von Begriffen wie »Trauma«, »schizophren« oder »depri« bagatellisiert. Auch können sie enttäuscht werden, wenn sie vorschnellen Heilsversprechen oder populären Konzepten Glauben schenken, die entweder gar nicht oder zumindest nicht für sie geeignet sind. So seien Ansätze wie Selbstliebe, Dankbarkeit und positive Affirmationen für Menschen mit Depressionen oft nicht das Richtige. Denn für sie sei es meist notwendig, zunächst andere Probleme anzugehen, bevor ihnen Ansätze wie diese vielleicht nutzen können.

Maher, der sich auf Systemische Psychotherapie spezialisiert hat, nimmt auch auf das System »Gesellschaft« Bezug, wenn er ergründet, wie sich Stereotype und Wertvorstellungen in unserem Sprechen über psychische Gesundheit widerspiegeln. So tendiere man insbesondere gegenüber Frauen immer noch zu einer Opferrhetorik; etwa, wenn diese als »People Pleaser« dargestellt würden, ohne dass man dabei potenzielle Stärken wie besonders feinfühliges Verhalten in Erwägung ziehe; oder durch die Rede von »Daddy Issues«, die Frauen pathologisiert, anstatt das Verhalten der »Daddys« zu thematisieren. Generell würden viele Mental-Health-Konzepte der Pop-Psychologie über strukturelle Probleme wie soziale Ungleichheit oder unsichere Arbeitsverhältnisse einfach hinweggehen, da diese sich kaum mit Achtsamkeit, dem richtigen Mindset oder genug Willenskraft lösen lassen.

Lukas Maher geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er argumentiert, dass strukturelle Probleme von der Pop-Psychologie nicht nur ignoriert, sondern durch sie tendenziell sogar vergrößert würden. Indem sie einfache »Lösungen« leicht zugänglich mache, verdecke sie das gesellschaftliche Problem, dass weder der Zugang zu einem Therapieplatz noch der kostspielige Weg zum Beruf des Psychotherapeuten inklusiv genug seien.

Die Kritik des Autors macht also auch vor seiner eigenen Profession nicht halt. Sie ist konsequent, umfassend und beeindruckend scharfsinnig. Manchmal kann sie einen vielleicht triggern, da sie gewohnte Konzepte hinterfragt. Doch vor allem regt sie zum Nachdenken an. Zum Beispiel darüber, ob das Wörtchen »triggern« an dieser Stelle wirklich angebracht war.

Ist Ihr Interesse geweckt? Dann werfen Sie doch einen Blick in unsere ausführliche Leseprobe zum Buch.

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