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»True Crime in Nature«: Von Sexfallen und Dreiklauern

Verbrechen sind es nicht, die Farina Graßmann aufdeckt, sondern faszinierende Verhaltensweisen aus dem Tier- und Pflanzenreich. Ein Buch zum Staunen und Entdecken.

Ein Buch mit einem solchen Titel ist ein Wagnis. Selbst wenn die Autorin Farina Graßmann mehrfach darauf hinweist, dass »True Crime in Nature« nur eine umschreibende Metapher sei, so bleibt dies doch eine vermenschlichende Beschreibung von unter Tieren und Pflanzen völlig normalen Verhaltensweisen. »Deswegen verstehen Sie dieses Buch bitte als eine tiefe Verneigung vor dem Einfallsreichtum der Kriminellen, die Ihnen hier begegnen.« Ob dies als »Entschuldigung« ausreicht, mag jeder Leser selbst entscheiden; man hätte jedenfalls auch unter einem ganz anderen Titel über dasselbe Thema schreiben können.

Die Innenseiten des Einbandes fungieren als Inhaltsverzeichnis: In 15 Kapiteln werden verschiedenste »Verbrechen« angezeigt, die Tiere und Pflanzen bei unterschiedlichen Tätigkeiten beschreiben. Die Beispiele sind sehr geschickt gewählt und gut und nachvollziehbar geschildert. Die Formulierung im Schlusssatz – das Buch sei ein »klitzekleiner Einblick in eine weitestgehend unerforschte Welt« – trifft freilich nicht zu. Natürlich bleibt immer noch viel zu erforschen; aber die im Buch beschriebenen Verhaltensweisen sind größtenteils lange bekannt, wenn auch nicht immer in allen Details.

So wird unter der Überschrift »Der Kleine Leberegel – vom Kuhfladen ins Ameisenhirn« ein wirklich eindrucksvolles Beispiel beschrieben. Es rekonstruiert den komplizierten Weg, den der kleine Parasit aus dem Kot der Kuh wieder in deren Gedärme und dann in die Leber zurücklegt. Dazu braucht er Schnecken und Ameisen als »Transportmittel« für seine verschiedene Larven (Jugendstadien). Die Pointe dabei ist, dass eine (!) von vielen Egellarven ins Unterschlundganglion einer Ameise eindringt und so dafür sorgt, dass diese Ameise abends nicht ins Nest zurückkehrt, sondern sich draußen an der Spitze eines Grashalms festbeißt. Wenn sie dort am nächsten Morgen – in kühler Umgebung – von der Kuh gefressen wird, ist der Egel wieder im Rind und kann sich dort fortpflanzen. Diesen Prozess an sich kennt man schon sehr lange; neu ist die Erkenntnis, dass die Ameise – so sie nicht von der Kuh gefressen wurde  – von der Spitze des Grashalms nach der Erwärmung durch die Sonne wieder ins Nest zurückkehrt und am folgenden Abend erneut draußen bleibt – und zwar so lange, bis es »klappt«.

Eine Sexfalle für Wespen

Die Begeisterung für Orchideen ist unter Botanikern groß. Das Wissen um diese Pflanzen ist in Tiefe und Breite umfassend, die Literatur über sie kaum überschaubar. Besonders interessant sind dabei die Arten der Gattung Ophrys (Ragwurz). Im Abschnitt »Die Fliegen-Ragwurz – die Sexfalle« hat sich die Autorin eine eher unscheinbare Art vorgenommen, die aber eine eigenartige Bestäubung aufweist. Sie strömt einen Duft aus, der die Männchen der Ragwurz-Zikadenwespe (Argogorytes mystaceus) anlockt, die sie dann anfliegen, um auf ihr Kopulationsbewegungen auszuüben. Dabei klebt ihnen die Pflanze zu Pollinien verklebte Einzelpollen auf die Stirn – und die Wespen fallen bei der nächsten Blüte wieder auf denselben Trick herein. Auch das weiß man eigentlich schon seit 1916, als ein Amateur, der französische Arzt A. Pouyanne, dieses Rätsel löste. Aber damals wollte niemand etwas von solchen »Schweinereien« wissen. Heute kennt man bis zum letzten Atom den Aufbau der Duftstoffmoleküle vieler Ragwurzarten.

Dass Kuckucke ihre Eier von anderen Vögeln ausbrüten lassen, lernt man in der Schule; ebenso, dass die geschlüpften Küken die Eier oder sogar die Jungen der Wirtsvögel aus dem Nest werfen, da sie so groß werden, dass ihre »Eltern« ihnen auf den Kopf steigen müssen, um sie zu füttern. Dass diese Methode der Aufzucht des Nachwuchses sich auch in anderen Tiergruppen entwickelt hat, etwa bei Enten oder vielen Insekten, ist weniger bekannt. So ist fast jede vierte Bienenart bei uns in diesem Sinne ein »Kuckuck«. Das betrifft allerdings nicht die Honigbienen, sondern Wildbienen und Hummeln, die von anderen die Aufzucht ihrer Jungen erledigen lassen.

Eindrucksvoll folgt diesem Prinzip auch ein Käfer, der Ölkäfer. Dessen Weibchen kriechen im Frühjahr mit einem Hinterleib herum, der vor lauter Eiern zu platzen droht. Wer so viele Eier legt, »rechnet« damit, dass die meisten von ihnen nicht erwachsen werden. Also legen die Ölkäferweibchen diese im Boden ab; von dort klettern die winzigen Larven in Blüten, zum Beispiel von Buschwindröschen, wo sie zu ihren sechs Beinen drei klauenartige Fortsätze entwickeln. Kommt dann ein Insekt zur Bestäubung einer Blüte vorbei, wird es vom sogenannten Dreiklauer angesprungen und trägt ihn in sein Nest. Hat der dabei den »richtigen« Transporteur erwischt, hat er eine Überlebenschance; wenn nicht, war alle Mühe umsonst.

Das mag als kleine Auswahl aus den über 50 gut recherchierten Geschichten mit »verbrecherischem« Hintergrund genügen. Die Autorin, unter anderem Naturfotografin und Mitarbeiterin bei der Heinz Sielmann Stiftung, beschwert sich ein wenig über die Höhe des Bücherstapels auf ihrem Schreibtisch, der für die Recherchen zu diesem, ihrem vierten Buch notwendig war – für die Qualität dieses Werks war er freilich wichtig. Für die übrigen Abbildungen sorgte der Comiczeichner Cornelis Jettke, gelernter Kommunikationsdesigner und vielseitiger Illustrator.

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