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Gibt es ein richtiges Leben im falschen?

Der emeritierte Philosoph Gernot Böhme und seine Tochter Rebecca Böhme lassen sich über die heutige Wohlstandsgesellschaft aus.

Deutschland ist, wie der größte Teil der westlichen Welt, eine Wohlstandsgesellschaft. Es werden nicht nur allgemein alle Grundbedürfnisse befriedigt, viele können sich zunehmend sogar Luxus leisten. Zwar hat die Corona-Pandemie manchen Bürgern einiges abverlangt, doch die Rückkehr »ins normale Leben« steht fast vor der Tür, selbst wenn manchen Kritikern das nicht behagt.

Keine Rückkehr zur Normalität

In diese Bresche springen der emeritierte Philosoph Gernot Böhme und seine Tochter, die Neurowissenschaftlerin Rebecca Böhme, mit ihrem Buch »Über das Unbehagen im Wohlstand«. Keine »einfache Rückkehr zur Normalität« solle es geben, sie sei »keineswegs wünschenswert«. »Die Frage, wie es ›nach Corona‹ weitergehen soll, zwingt uns dazu, das Unbehagen in eine explizite Kritik des Bisherigen zu transformieren«.

Kritik am Wohlstand ist ebenso alt wie die Zunahme von Wohlstand. Schon im alten Rom mokierten sich Satiriker über die Verhältnisse, und der Trend setzte sich in den Jahrhunderten danach fort. 1962 erschien unter dem Titel »Unbehagen im Wohlstand« bereits einen Verriss über Ernest Zahns Buch »Soziologie der Prosperität« (1960), der ihm eine verlogene Moral vorwarf: »Wir meinen, daß es uns nicht anstehe, darüber zu richten, was auf der Bedürfnisskala des heutigen Bundesverbrauchers oben und was unten zu stehen habe.« Diese Art der Moral kann man auch den Böhmes vorwerfen, und noch mehr.

Während sich für Wohlstand eine Reihe von Indikatoren finden lassen, vom Bruttosozialprodukt bis zur weltweit vergleichenden Glücksforschung, welche die Autoren allerdings gar nicht anführen, bleibt Unbehagen ein diffuses Wort im Buch, trotz einer Anspielung auf Sigmund Freuds »Unbehagen in der Kultur«. Die tautologische und inhaltsleere Definition vom Anfang, »Unbehagen ist misslingendes Behagen, immer wieder misslingendes Behagen«, ist auch nach weiteren 170 Seiten nicht schlüssiger formuliert: »Tatsächlich ist hier das Unbehagen im Wohlstand ein unangenehmes Beigefühl, das im Hintergrund des insgesamt guten, wohlsituierten Lebens mitschwingt. Oft kaum greifbar, häufig einem selbst nicht einmal bewusst, fällt es den meisten schwer, diesen bitteren Nachgeschmack des Wohlstands in Worte zu fassen.«

Worum geht es also? Angesichts fehlender Präzision einer tragenden Definition wie auch – vermutlich – vager Kenntnisse von Statistiken, Forschungen und Sachverhalten dilettieren die beiden Autoren in einer diffusen Kritik an »der« Gesellschaft. Sie schreiben gegen die Kritische Theorie der Frankfurter Schule an, insbesondere Theodor W. Adornos Aussage aus den »Minima Moralia«: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Die Verfasser wollen hingegen nachweisen, dass es ein solches sehr wohl gebe; sie erreichen aber weder die Gedankentiefe Adornos noch die der Frankfurter Schule. Was die Böhmes stattdessen propagieren, ist eine naive, romantische Vorstellung von der Rückkehr ins einfache Leben, präsentiert mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger in einem paternalistischen Ton. Die eingefügten Erkenntnisse der Hirnforschung sehen eher aus wie Beiwerk.

Fehlt dem Buch schon Gedankentiefe, so auch die Schärfe im Thema. Es kratzt mit seinen kritischen Äußerungen nur an der Oberfläche heutigen Lebens. Noch dazu glauben die Autoren der Leserschaft Ratschläge für gelingendes einfaches Leben erteilen zu müssen, die in ihrer Naivität kaum zu überbieten sind. So springt das Buch von der Kritik am Shopping zur Kritik an einem Übermaß an Versicherungen bis hin zu »Zumutungen, ein Individuum sein zu müssen«, dem sie zudem fortwährend raten, das Smartphone beiseitezulegen. Bezeichnend ist auch ein Satz aus dem Kapitel »Fitness«: »Wenn es nicht gern gesehen ist, dass man öfter Pausen einlegt, um aufzustehen, bietet es sich an, einmal mehr zur Toilette, zum Kopierer oder zum Wasserspender zu gehen.« Es erstaunt, dass das Lektorat der edition suhrkamp, die bekannt für ihre sehr theoriegetränkten Bücher ist, solche Passagen hat durchgehen lassen. Naive Sätze wie diese und peinliche Ratschläge finden sich zuhauf im Buch; sie unterfordern die Intelligenz der Leserschaft dieser Reihe.

Selbstredend ist unsere Überflussgesellschaft zu kritisieren. Das Bewusstsein über die Verschwendung und den übermäßigen Verbrauch von Natur und Ressourcen wächst deutlich, ebenso unser ökologisches Bewusstsein. Der rasche Wechsel von Gesellschaftstrends verleitet zum schnellen Wegwerfen. Der Moralismus der Böhmes entbehrt aber der wissenschaftlichen Präzision wie der analytischen Begründung. Und weil die Autoren sich ausschließlich auf Deutschland und die hiesigen Verhältnisse kaprizieren, keinen Blick ins Ausland wagen, stellt sich die Frage, ob sie nur den deutschen Provinzialismus fortsetzen. »Sagt, ist noch ein Land außer Deutschland, wo man die Nase eher rümpfen lernt als putzen?«, schrieb einst der Aphoristiker und Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799). Das passt noch heute.

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