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Gedanken eines Hirnchirurgen

Im Leben des Hirnchirurgen Henry Marsh liegen große Erfolge und tragische Fehlschläge dicht beieinander. In einem Moment kann er einer überglücklichen Ehefrau verkünden, dass er den Hirntumor ihres Mannes erfolgreich entfernt hat, was dem Mann das Leben rettete. Im nächsten Augenblick steht er einer jungen Mutter gegenüber, die seit seinem operativen Eingriff halbseitig gelähmt ist. Obwohl Marsh zu den renommiertesten Hirnchirurgen Englands zählt und auf viele tausend Operationen zurückblicken kann, beschreibt er, dass er noch immer Aufregung, Angst und Ehrfurcht empfindet, wenn er in das Organ schneidet, mit dem Menschen denken und fühlen.

Bevor Marsh sich für den Arztberuf entschied, studierte er Wirtschaft, Politik und Philosophie. Das scheint in seinem Buch durch: Immer wieder lässt er philosophische Gedanken einfließen, etwa zu der Frage, wie es sein kann, dass elektrische Impulse zwischen Zellen zu menschlichem Bewusstsein führen. Bildhaft und anschaulich schildert er seine ärztliche Tätigkeit und den Ablauf einer Hirnoperation. Mit beinahe poetischen Worten malt er aus, wie faszinierend das Gehirn von innen aussieht. Hier wird deutlich, dass er sich trotz aller Routine Begeisterung und Demut bewahrt hat.

Jeder Schnitt eine Gratwanderung

"Um Leben und Tod" ist ein Sachbuch, liest sich aber oft fesselnd wie ein Roman. Als Leser fiebert man bei schwierigen Operationen mit und ist erleichtert, wenn alles gut geht, beziehungsweise erschüttert, wenn der Patient stirbt oder eine schwere Behinderung davonträgt. Marshs zahlreiche Fallbeispiele zeigen die Vielseitigkeit der Hirnchirurgie. Sie machen aber auch deutlich, dass es in diesem Beruf unmöglich ist, keinem Patienten zu schaden. Gerade unerfahrene Ärzte stehen bei Operationen oft vor dem Dilemma, dass ihre älteren Kollegen den Eingriff mit mehr Routine und Sicherheit ausführen könnten – sie selbst aber Praxiserfahrung brauchen, um besser zu werden. So tragisch ein Behandlungsfehler für den einzelnen Patienten sei, schreibt Marsh, so wichtig sei er für den Arzt, um daraus zu lernen und künftigen Betroffenen besser helfen zu können. Getreu dieser Einstellung stellt er sich seinen eigenen Fehlern und beschreibt sie erstaunlich offen.

Zur Sprache bringt Marsh auch persönliche Erlebnisse. Sein eigener, inzwischen erwachsener Sohn hatte im Alter von drei Monaten einen Hirntumor. Rückblickend meint der Autor, diese Erfahrung habe ihm geholfen, die teils verzweifelt hoffenden, teils wütend-ängstlichen Angehörigen von Krebspatienten besser zu verstehen. Deutlich wird auch der Konflikt zwischen Beruf und Privatleben, unter dem Marsh, wie so viele Ärzte, leidet. Seine erste Ehe, schreibt er, sei an seiner Begeisterung für die Neurochirurgie zerbrochen.

Sand im Getriebe des Medizinbetriebs

Sehr kritisch setzt sich der Autor mit den Zuständen in seinem Krankenhaus und mit der Organisation des britischen Gesundheitssystems auseinander. Hat man zuvor die dramatischen Schilderungen von schwierigen Hirnoperationen gelesen, erscheint es nun umso empörender, dass Patienten sterben müssen, bloß weil kein Bett für sie frei ist. Andere müssen quälend lang auf ihre Diagnose warten, weil die Klinik gerade ein neues Computerprogramm eingeführt hat, das nicht funktionieren will. Es fällt leicht, die Entrüstung des Autors hierüber nachzuvollziehen; ob seine Lösungsvorschläge allerdings immer zielführend sind, darf bezweifelt werden. Oft scheinen sie eher darauf zu zielen, die "gute alte Zeit" zu restaurieren, in der Chefärzte noch allmächtig und CT-Aufnahmen auf Papier statt im Computersystem festgehalten waren. Doch reaktionär zu sein, kann man Marsh nicht vorwerfen. Im Gegenteil, er betont immer wieder, wie froh er über die Errungenschaften der modernen Medizin ist, die heute Operationen ermöglichen, die zu Beginn seiner Laufbahn undenkbar waren.

Auch wenn Patienten den Ärzten, von denen ihr Leben abhängt, gern übermenschliche Fähigkeiten zuschreiben (möchten): Marsh legt in manchmal schockierender Offenheit dar, dass Fehler ebenso zur Tätigkeit des Mediziners gehören wie Erfolge. Der Beruf des Neurochirurgen sei daher nicht nur erfüllend und faszinierend, sondern immer zugleich belastend. Das Buch regt zum Nachdenken an: über den Wert des Lebens, über die Rollen des Arztes und des Patienten sowie darüber, was die Persönlichkeit eines Menschen ausmacht.

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