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Die überforderte Gesellschaft kommt nicht zur Ruhe

Warum wir gut darin sind, einfache Probleme zu lösen, aber an großen Krisen notwendigerweise scheitern müssen.

»Der größte Wunsch, den alle haben, ist: nicht mehr so genau hinsehen zu müssen. Latenzschutz zu genießen. Daraus sollte man etwas lernen für die nächsten Formen der Krisenbewältigung, denn der Krisenmodus scheint nicht wirklich geeignet zu sein, um Krisen zu meistern.« Bevor man diesen einfachen Schlusssatz von Armin Nassehis »Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft« liest, hat man 340 Seiten gesättigter Theorie hinter sich. Um es gleich zu sagen: Diese Seiten haben es nicht nur in sich, sie lohnen sich auch. Wer sie aufmerksam liest, lernt viel über die moderne Gesellschaft und ihre vergeblichen Krisenstrategien.

Warum lässt die Menschheit so viel Leid zu?

Ausgangspunkt für den bekannten Münchner Soziologen Nassehi ist die einfache Frage seiner Studierenden, wie die Menschheit so viel Leid zulassen kann, obwohl sie die Mittel dagegen in der Hand zu haben scheint. Es geht also um die moderne Soziodizee – analog zur Theodizee Leibniz' aus dem 17. Jahrhundert, die an der Allmacht, Allgüte und Allwissenheit Gottes angesichts des menschlichen Leids Zweifel erhob. Auf heute übertragen geht es um das Verzweifeln an den Möglichkeiten moderner Gesellschaften, erkannte Probleme und deren Ursachen zu beseitigen.

Dem Systemtheoretiker Nassehi geht es nicht um die Überforderung des Individuums, wie bei Freud und anderen, sondern um »die Selbstüberforderung der Gesellschaft«. Seine Denkrichtung »sieht im Krisenerleben der Moderne vor allem eine Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst«, aus der das Unbehagen erwächst.

Kennzeichen der Moderne seien die hohe Komplexität und die Kontingenzerfahrung. Ihr fehle eine zentrale, lenkende Mitte. Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme, etwa Bildungssystem, Kultur, Politik, Gesundheitswesen, Medien, Arbeitsverwaltung oder Markt, arbeiteten häufig weitgehend unabhängig voneinander. Sie seien sehr gut darin, einzelne Probleme zu lösen, versagten aber an übergreifenden Krisen. Das zeige sich insbesondere an der Corona-Pandemie und der Klimakrise. Komplexität stehe einer Koordination des Handelns im Weg. Anders als in vormodernen Zeiten fehle den Menschen heute der Ort, der ihnen von Gott, Kirche oder Stand zugewiesen ist: Durchlässigkeit präge die Gesellschaft, Menschen wechselten ständig Rollen, Identitäten und Aufgaben, das Handeln erfordere fortgesetzte Selbstregulation, Gewohnheiten müssten neu erarbeitet werden.

Konflikte und Krisen erwiesen sich häufig als überkomplex, so dass sie sich nicht mehr auf der Sachebene vernünftig lösen ließen. Deshalb verlagerten wir sie auf die Sozialebene – gut sichtbar in den gegenwärtigen Disputen um Identität, Sprechen, Gender, Rassismus, Intersektionalität und so weiter. Nassehi verweist häufiger auf die Paradoxien, die bereits Alexis de Tocqueville, später Talcott Parsons und zuletzt Aladin El-Mafaalani im »Integrationsparadoxon« formuliert haben: »Konflikte über Migration nehmen dann zu, wenn sich die Position der Migrantinnen und Migranten erheblich verbessert hat.« Ähnliches gelte etwa für die Gleichberechtigung von Frauen oder die geschlechtergerechte Sprache. Nicht zuletzt heizten die Sozialen Medien solche Konflikte an.

Auf die Frage »Was tun?« gibt Nassehi zwei nur scheinbar einfache Antworten. Man müsse Anschlussmöglichkeiten schaffen. Das meint: Personen unterschiedlicher Expertise zusammenbringen, von ihnen aber keinen Konsens erwarten, sondern hoffen, dass sie voneinander lernen und neue Lösungen erarbeiten. Als gutes Beispiel verweist Nassehi auf die Entstehung der Palliativmedizin und die Hospizbewegung, als die Apparatemedizin das Sterben deutlich verlängerte. Berufszweige, die zuvor getrennt voneinander gearbeitet hatten, fanden zusammen und lernten »gemeinsame Entscheidungsroutinen« im Umgang mit dieser Komplexität. Heute ist die Palliativmedizin etabliert.

Der zweite Punkt lautet Latenzschutz aufbauen. »Eine durchschaubare Welt ist eine unsichere Welt.« Deshalb schlägt Nassehi die Nutzung ästhetisch-konsumähnlicher Formen statt Aufklärung vor. Auch wenn dieser Gedanke unserer Vorstellung widerspricht, sind gerade Formen der Werbung Formen der Inszenierung. Sie informieren, klären gleichzeitig auf und verbergen das durch Inszenierungen. »Vertrauen wird dadurch hergestellt, dass man nicht genau hinsehen muss – und nur wer nicht so genau hinsieht, kann die Bedingung der Kontingenz einer Situation so unsichtbar halten, dass es möglich ist, der Überforderung entgegenzutreten.« Als ob das so einfach wäre …

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