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Zwischen Neuguinea und Sibirien

Forschende Frauen in der Ferne: Zu Beginn des letzten Jahrhunderts lieferten Anthropologinnen bahnbrechende Einsichten in fremde Kulturen.

Wer macht die ganze Arbeit, wenn ein Mann nur eine Gemahlin hat? Als Katherine Routledge vor rund 100 Jahren einer Kikuyu-Frau in Ostafrika die westliche Ehe erklärte, konnte sie deren Frage nicht einfach von der Hand weisen. Schließlich genossen die Kikuyu-Frauen in Vielehe oft tatsächlich ein einfacheres Leben als ihre britischen Zeitgenossinnen. Doch ganz grundsätzlich war Routledge weniger an heimischen Gepflogenheiten als an der fremden Kultur interessiert. Denn sie war als eine der ersten Anthropologinnen unterwegs.

Freiheit in der Fremde

Wie Frances Larson in ihrem bislang nur auf Englisch erschienenen und glänzend erzählten Buch »Undreamed Shores« berichtet, war Routledge aber nicht allein. Als sich die britische »anthropology« – die im deutschen Sprachraum jetzt eher der Ethnologie entspricht – zu Beginn des letzten Jahrhunderts als eigenständige Disziplin etablierte, konnten vor allem an der University of Oxford auch Frauen studieren – eine einmalige Chance. Fünf der Absolventinnen hat Larson ausgewählt und deren Biografien fast nahtlos miteinander verwoben. So unterschiedlich diese Frauen auch waren, hatten sie eines gemeinsam: Freiheit fanden sie nur in der Fremde.

Katherine Routledge beispielsweise kam aus reichem Elternhaus, konnte sich jedoch nur mit anhaltender Sturheit die Ausbildung in Oxford erkämpfen. Die Arbeit in Ostafrika war möglich, weil sie zwischenzeitlich einen Ehemann mit ähnlichen Interessen an ihrer Seite hatte. Später machten sich die beiden im eigens gebauten Schiff zu den Osterinseln auf, um in einem ambitionierten Projekt die Herkunft der rätselhaften Riesenstatuen vor Ort zu entschlüsseln.

Maria Czaplicka wiederum konnte von unbegrenzten Ressourcen nur träumen. Die junge Polin war auf sich allein gestellt und stürzte sich in die Ausbildung in Oxford. Ihre Forschung sollte sie in eine ähnlich isolierte Gegend führen. Unter außerordentlicher physischer und psychischer Anstrengung suchte Czaplicka vom Schlitten aus im eisigen Winter nach den Rentierhirten Sibiriens und legte dabei mehr als 3000 Meilen zurück. Auch hier war das Staunen gegenseitig: Diese Menschen hatten noch nie eine europäische Frau gesehen.

Barbara Freire-Marreco hatte immerhin Rückhalt in der Familie, der sie allerdings so manche berufliche Ambition opfern musste. Trotzdem verbrachte sie einige Zeit im amerikanischen Südwesten, um Pueblo-Gemeinschaften in New Mexico und Arizona zu erforschen. Kein leichtes Unterfangen, waren doch unverfälschte Kulturen gefragt, die sich ebendiese »Unberührtheit« nicht selten durch außerordentliche Feindseligkeit gegenüber Fremden bewahrten.

Beatrice Blackwood musste hier sogar an zwei Fronten kämpfte. Sie interessierte sich für kriegerische Stämme Neuguineas, die ihre Waffen noch aus Holz und Stein fertigten. Weil diese Männer aber als einfältig, faul und fast tierhaft galten, untersagte die koloniale Verwaltung weißen Frauen den Kontakt. Die von Selbstzweifeln geplagte Blackwood setzte sich schließlich durch und konnte im Inneren des Landes erfolgreich arbeiten – wenn auch nicht so intensiv wie gewünscht, denn das »unberührte« Dorf verschob besonders geheime Rituale kurzerhand auf die Zeit nach ihrer Abreise.

Winifred Blackman dagegen hatte wenig mit Misstrauen zu kämpfen. Sie trat ihre Ausbildung in Oxford zwar erst mit 40 Jahren an, verbrachte dann allerdings über fast zwei Dekaden jedes Jahr mehrere Monate bei ägyptischen Bauern und hatte dort engen Familienanschluss. Auch ihre Forschung war erfolgreich, aber finanziell nie gesichert. Nach jeder Saison im Feld musste sie um die weitere Förderung bangen. Ein Problem, das bei den Anthropologinnen – anders als bei den männlichen Kollegen – fast chronisch war.

Czaplicka hat die Angst um die Mittel vermutlich sogar das Leben gekostet. In einer vermeintlich aussichtslosen Situation schluckte sie Tabletten und starb mit 36 Jahren. Selbst die gut situierte Routledge konnte sich nicht auf ihren Reichtum verlassen, denn dieser wurde nach der Trennung ihrem Mann zugesprochen. So ganz konnten sich diese Wissenschaftlerinnen also den engen Grenzen ihrer von Männern dominierten Welt nicht entziehen. Doch hatte dann wenigstens ihre Forschung jenseits aller Geschlechtergrenzen Bestand?

Einige der Arbeiten sind verloren, andere dagegen heute noch wertvoll. Oder könnten es zumindest sein: Wie Larson schreibt, sind die Pionierinnen der damals neuen Disziplin fast vollständig vergessen. Denn die Anthropologie etablierte sich nicht nur zu Beginn des letzten Jahrhunderts, sondern wandelte sich schnell von Grund auf. Noch während die Frauen bahnbrechende Arbeiten leisteten, setzte sich ein neuer Ansatz durch. Anstatt weite Gebiete in der Ferne abzudecken, sollten sich Anthropologen und Anthropologinnen jetzt lange und intensiv auf eine einzelne Gemeinschaft fokussieren.

Das wird den frühen Oxford-Forscherinnen aber nicht gerecht, die teils fremd im eigenen Land waren und sich vielleicht gerade deshalb den fernen Kulturen besonders sensibel näherten. Unstrittig ist etwa, dass Fragen zu Beziehungen, häuslichen Belangen und der Kinderversorgung männlichen Wissenschaftlern meist verschlossen geblieben wären. Es ist also Zeit, diese faszinierenden Frauen ins Rampenlicht zu rücken. Larsons brillantem Buch ist dringend ein deutscher Verlag zu wünschen – und eine große Leserschaft.

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