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»Unser soziales Gehirn«: Mehr Miteinander für ein gesundes Gehirn

Unser Gehirn benötigt ein gelungenes Miteinander, damit es gut funktioniert und wir glücklich sein können. Warum das so ist, schildert Nicole Strüber

»Wir brauchen einander!« – Nicole Strüber wiederholt diese Aussage wie ein Mantra geduldig und facettenreich in ihrem psychologischen Sachbuch, ohne dabei zu langweilen. Zu vielschichtig sind die positiven Auswirkungen von Sozialität. Das Miteinander ermöglicht es nicht nur, gemeinsam stärker zu sein oder als Gesellschaft besser zu funktionieren. Die Autorin erklärt zudem sehr anschaulich, wieso und wie das Miteinander an sich und als Selbstzweck unserem Gehirn guttut.

Ein wesentlicher biologischer Grund, warum wir verhältnismäßig große und so gefurchte Gehirne haben, ist unsere Sozialität. Schließlich muss sich unser Gehirn nicht bloß in einer komplexen physischen Welt zurechtfinden, sondern ebenso im sozialen Miteinander. Wo finde ich Schutz und Hilfe? Wem kann ich vertrauen? Wer meint es nicht so gut mit mir – trotz freundlicher Miene? Um all das zu lernen und verlässliche soziale Netzwerke aufzubauen, hat die Evolution unser Gehirn mit bemerkenswerten Fähigkeiten ausgestattet, wodurch wir im besten Fall täglich ein glückendes Miteinander erleben können. Doch es geht nicht nur um ein angenehmes Lebensgefühl, das durch Sozialität entsteht: Ein Mangel an Miteinander und Gemeinsamkeit schädigt sogar unser Gehirn. Tatsächlich wird derzeit in den kognitiven Neurowissenschaften die Wirkung von Einsamkeit auf den Hirnstoffwechsel verstärkt erforscht. Einsamkeit wurde als eine der Hauptursachen für vorzeitige altersbedingte Degeneration und Sterblichkeit erkannt. Eigentlich ist das gar nicht so überraschend: Wenn wir eine Maschine nicht ihrem Verwendungszweck entsprechend benutzen, geht sie schneller kaputt. Dieses Prinzip können wir auch auf unser Gehirn anwenden; und »Unser soziales Gehirn« bietet sehr viele Ansatzpunkte dafür, wie wir diese Erkenntnis nutzen können.

Von Kuschel- und Stresshormonen

Nicole Strüber erklärt, was neurophysiologisch im Gehirn abläuft, wenn wir im sozialen Kontakt mit anderen Menschen stehen. Besonders arbeitet sie dabei die Rolle des Botenstoffs Oxytozin heraus, der bei uns von klein auf dann ausgeschüttet wird, wenn wir soziale Nähe spüren. Dieses, vereinfacht ausgedrückt, »Kuschelhormon« moduliert das »Stresshormon« Kortisol und hat daher einen großen Einfluss darauf, wie wir uns fühlen – sowie darauf, wie Stoffwechselprozesse im Körper ablaufen: von der Muskelspannung über den Blutdruck bis hin zu Entzündungsprozessen. Mehr Miteinander, freundliche Gespräche und Kuscheln machen uns also nicht nur glücklicher, sondern auch gesünder!

Aber heißt das, dass man Menschen einfach nur Oxytozin verabreichen müsste und sie dadurch schlagartig netter, glücklicher und gesünder würden? Warum das dann doch nicht so einfach ist, schildert die Autorin mit Blick auf die komplexen biologischen Zusammenhänge, die hier wirken. Denn Oxytozin ist kein Wundermittel, sondern eher die Konsequenz, die aus gutem Miteinander entsteht. Deshalb ist es besser, sich bewusst Zeit für andere Menschen zu nehmen, sich auf sie einzulassen und gemeinsam mit ihnen zu »schwingen«. Für eine solche Synchronisation im Miteinander gibt es viele Möglichkeiten, wie Nicole Strüber erläutert.

Es ist sehr angenehm, dass die Autorin dabei die Mühen wissenschaftlicher Forschung mit all ihren empirischen und theoretischen Widersprüchen ernst nimmt und transparent macht. Obwohl sie sehr verständlich und praxisorientiert schreibt, liefert sie zugleich umfangreiches Hintergrundwissen und ermöglicht durch viele Einschübe und Verweise ein tieferes Eintauchen in die Materie. In ihrem akademischen Lebenslauf finden sich im Übrigen auch Arbeiten zum Thema frühkindliche Bindung, die sie gemeinsam mit dem bekannten Hirnforscher Gerhard Roth verfasst hat. Neben aller ernsthaften Sachlichkeit schildert sie eigene Erfahrungen mit Ängsten und Stress authentisch gefühlvoll und wie ihr selbst das Miteinander mit Freundinnen, Freunden und Familie geholfen hat.

»Unser soziales Gehirn« ist ausgezeichnet aufgebaut und gestaltet. Nach einem überblicksartig gehaltenen ersten Teil folgt ein praxistauglich gegliederter zweiter Teil, der verschiedene Phasen des Lebens – von der frühen Kindheit bis zum hohen Alter – und einzelne Themen wie Berufsleben und interkulturelles Verständnis aufgreift. Jedes Kapitel schreitet vom Allgemeinen zu einer genauen Problemanalyse und dann weiter zu möglichen Auswegen, die so konkret sind, dass man sie selbst ausprobieren kann. Der Stil der Autorin mag auf manche Leser gerade zu Beginn der Lektüre ein wenig bemüht wirken; insgesamt ist das Buch aber sehr leicht zugänglich und flüssig geschrieben. Ich schätze vor allem die gelungene wissenschaftliche Kommunikationsarbeit, bei der die Autorin fast immer den richtigen Ton trifft – selbst dann, wenn es kompliziert wird.

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