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Nicht richtig tot, nicht richtig lebendig

Eine Umweltmikrobiologin stellt die erstaunlich facettenreiche Welt der Viren vor.

Ärzte in Schutzanzügen, überfüllte Krankenhäuser und Patienten auf Intensivstationen: Solche Bilder haben viele vor dem inneren Auge, wenn sie den Begriff »Virus« hören. Doch dies unterschlägt, welch enorme Vielfalt diese infektiösen Partikel aufweisen – und welch positive Eigenschaften etliche von ihnen haben.

Die Autorin Marilyn J. Roossinck ist Professorin für Pflanzenpathologie und Umweltmikrobiologie an der Pennsylvania State University. In der Einführung ihres Buchs legt sie dar, wie schwer die Antwort auf die Frage fällt, was Viren eigentlich sind: »Das Problem ist, dass jedes Mal, wenn sie (die Forscher) glauben, eine gute Definition gefunden zu haben, jemand ein Virus entdeckt, dass nicht dazu passt (...).« Früher meinten Forscher beispielsweise, Viren seien zu klein, um sie in einem Lichtmikroskop sehen zu können. Bis sie Riesenviren entdeckten, die größer als Bakterien sind. Roossinck geht auf die Größenverhältnisse und -unterschiede der infektiösen Partikel ein, erklärt Grundlegendes zu deren Systematik und Lebensweise. Die wichtigste Gemeinsamkeit der Viren ist demnach, dass alle eine Wirtszelle brauchen, um sich darin zu vervielfältigen.

Nach Wirten sortiert

Der zweite Buchteil präsentiert 101 Porträts ausgewählter Viren, jeweils veranschaulicht mit eingefärbten elektronenmikroskopischen Aufnahmen. Es macht große Freude, durch diesen Teil zu blättern, allerdings wäre es hilfreich gewesen, hätte die Autorin die Bilder mit Angaben zum jeweiligen Durchmesser beziehungsweise mit Größenmaßstäben versehen. So schwierig es ist, Viren zu definieren, so schwer ist es auch, sie zu ordnen. Roossinck fasst die Erreger anhand ihrer Wirte zusammen. Das ist sinnvoll, denn die entsprechenden Gruppen zeichnen sich durch viele Ähnlichkeiten aus. Weniger gut gelungen erscheint die Anordnung der Viren innerhalb der Wirtsgruppen. In der englischen Originalausgabe sind die Viren alphabetisch sortiert. Ihre Reihenfolge wurde in der übersetzten deutschen Fassung beibehalten, was wegen der teils anderslautenden Namen zu Verwirrungen führt. Um das Buch als Nachschlagewerk zu nutzen, wäre es besser gewesen, die alphabetische Gliederung auch im Deutschen beizubehalten. Eine andere Möglichkeit hätte darin bestanden, die Erreger nach der Art ihres Erbguts beziehungsweise des Fortpflanzungsmechanismus zu ordnen. Dann hätten sich verwandte Viren nah beieinander befunden.

Mithilfe von Viren haben Forscher zentrale Erkenntnisse zur Struktur und Organisation des Erbguts gewonnen. Bis heute sind die infektiösen Partikel ein wichtiges Werkzeug der Molekularbiologie. Roossinck stellt Meilensteine der Virenforschung vor. Dabei fällt auf, wie schnell die jüngsten Durchbrüche etwa bei Impfstoffen aufeinander folgten. Allerdings bedrohen Viren immer noch unsere Gesundheit, denn sie können sich rasch verändern und passen sich auch an menschengemachte Veränderungen wie den Klimawandel oder Monokulturen an. Wechseln sie infolgedessen ihre Wirte oder Überträger, können sie völlig unerwartet Epidemien oder Pandemien auslösen. Das geschah beispielsweise (wahrscheinlich) bei der Spanischen Grippe. Der Zikavirus-Ausbruch 2015/16 taucht in dem Buch, dessen Chronologie seltsamerweise bereits 2014 endet, nicht auf.

Den Wirtsorganismus krank zu machen oder gar zu töten, ist für ein Virus eigentlich von Nachteil, denn dann können die Wirte sich schlechter oder überhaupt nicht mehr fortpflanzen, womit sich die Erreger ihre eigene Vermehrungsgrundlage entziehen. Bei vielen Viren haben sich daher Eigenschaften ausgeprägt, die dem Wirt nützen – etwa beim Curvulaia-Thermal-Tolerance-Virus. Wie dessen Name andeutet, hilft der Erreger einer Pflanze, bei hohen Temperaturen zu wachsen. Roossinck macht den Lesern anhand dieses Beispiels bewusst, wie komplex die Beziehungen zwischen Viren und ihrer Umwelt sein können: Nur wenn ein bestimmter Pilz, der das Curvulaia-Thermal-Tolerance-Virus trägt, die Pflanze besiedelt, kann diese die Temperaturen des Yellowstone-Nationalparks ertragen.

Der pflanzen- und umweltbiologische Hintergrund der Autorin macht sich schon in der Bucheinführung bemerkbar, wo sie den Lebenszyklus und das Immunsystem von Pflanzen und deren Viren detailliert erklärt. Die Immunität von Menschen und Wirbeltieren reißt sie hingegen nur kurz an. Insgesamt porträtiert sie beinahe ebenso viele Pflanzen- wie Humanviren. Das hat Nach-, aber auch Vorteile. So dürften sich die meisten Leser mehr für Human- als für Pflanzenpathogene interessieren; andererseits lernen sie in dem Buch dadurch auch weniger bekannte Erreger und ihre Wirte kennen und erfahren manch Überraschendes. So gibt es Viren, die uns helfen können, Krankheiten zu bekämpfen: Cryphonectria hypovirus infiziert und schwächt einen Pilz, der beim Kastanienbaum Krebs auslöst. Bestimmte Bakterienviren (Phagen) wiederum können Krankheitserreger wie Tuberkulosebakterien abtöten.

Roossinck gibt einen wertvollen Einblick in die Vielfalt der infektiösen Partikel und ihre komplexen Wirtsbeziehungen. Allerdings benötigen die Leser hier und da molekularbiologische Grundkenntnisse, etwa um die Lebenszyklen der Viren nachvollziehen zu können.

Hinweis der Redaktion: Spektrum der Wissenschaft und Springer Science+Business Media gehören beide zur Verlagsgruppe Springer Nature. Dies hat jedoch keinen Einfluss auf die Rezensionen. Spektrum der Wissenschaft rezensiert Titel aus dem Springer-Verlag mit demselben Anspruch und nach denselben Kriterien wie Titel aus anderen Verlagen.

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