»Vom Leisten zum Leben«: Wenn aus Faulheit Muße wird
»Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen«, meinte der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal bereits im 17. Jahrhundert. Der Mensch hatte allen Grund zur Betriebsamkeit, denn schon damals galt Faulheit Christen als eine der sieben Todsünden. Auch in unserer modernen, gottloseren Leistungsgesellschaft sind für viele Menschen Erholung und Entspannung eher notwendige Übel, um wieder fit für die Produktivität zu werden: Sport zur Regeneration des verbogenen Bürostuhlrückens; Yoga-Retreat zur Burnout-Prävention des geknechteten Geistes. Doch kann es sein, dass wir uns mit dieser Sucht nach Leistung vor allem schaden? Setzen wir für das Erreichen von Zielen unsere Gesundheit und unsere Kreativität aufs Spiel? Wofür lohnt es sich denn zu leisten – wenn dadurch kaum etwas vom Leben übrig bleibt?
Diesen Fragen geht Lukas Niederberger nach. Dem Autor selbst kann man Faulheit gewiss nicht vorwerfen. Nach seinem Philosophie- und Theologiestudium war er unter anderem als Leiter von Bildungseinrichtungen und gemeinnützigen Vereinigungen tätig. Bereits 1985 war er in den Jesuitenorden eingetreten und 1995 zum Priester geweiht worden. 2007 verließ er den Orden. In seiner zweiten, weltlicheren Lebenshälfte hat sich Niederberger zivilgesellschaftlich bei vielen Themen engagiert, etwa als Manager in den Bereichen Gemeinnützigkeit, Asyl und Bildung. Er lebt heute in einer glücklichen Partnerschaft und arbeitet als Autor und Kursleiter.
Wenn der 61-jährige Schweizer in Teilen kritisch auf sein arbeitsames Leben zurückblickt, das vom pflichtbewussten Erbringen von Leistung geprägt war, ist das nicht nur die persönliche Abrechnung eines katholischen Seelsorgers mit der protestantischen Arbeitsmoral seiner Schweizer Heimat. Es geht ihm um mehr: ein lebenswertes Leben. Sein Buch wendet sich vor allem an Menschen, die in ihrem Leistungstrott feststecken und daran etwas ändern möchten.
Psychologisch betrachtet, ist es durchaus eine schöne Erfahrung, Ziele durch die eigene Leistung zu erreichen. Doch dieser motivierende Glückszustand, den wir immer wieder aufs Neue herzustellen versuchen, geht vielleicht trotz des Erreichens immer weiterer Ziele irgendwann verloren. Wir stumpfen ab, genießen die Erfolge unserer Anstrengung nicht mehr und versinken in einem ungerichteten Leisten aus Gewohnheit. Und wir bekommen nicht mit, wenn wir uns selbst überanstrengen.
Solche schädlichen Verhaltensmechanismen sind aus dem Themenkreis der Sucht- und Zwangserkrankungen bekannt. Zu Beginn überwiegt die Freude am Ergebnis, doch bei Abhängigen verblasst die Freude bald. Und auch wenn die negativen Auswirkungen des eigenen Verhaltens erkannt werden, bleibt die lieb gewonnene und sich selbst verstärkende Gewohnheit bestimmend. Der Wille zur Leistung ohne ein Bewusstsein für ihren Zweck kann zu Zwang und Obsession werden. Von der ursprünglichen Freude bleibt dann nur mehr die Erleichterung, dass man die Deadline doch noch eingehalten hat. Das gewohnte Mindset mit Leistung als oberster Priorität drängt gesunde positive Alternativen in den Hintergrund oder sie werden gar überhaupt nicht mehr wahrgenommen.
In diesem Fall ist nicht das »Was?« des eigenen Tuns das Problem, sondern die ihm zu Grunde liegende Motivation. Betreibe ich Sport aus Freude an der Bewegung oder mache ich mein Hobby zum Leistungssport? Genieße ich Selbstentfaltung und Erkenntnis oder betreibe ich zwanghafte Selbstoptimierung? Bin ich beim Nichtstun neugierig und offen oder betäube ich mich durch scheinbare Zielgerichtetheit im zeitverschwendenden Konsum?
Müßiggang als Weg zur Tugend
Lukas Niederberger macht klar, dass er keineswegs Faulheit, Trägheit und endloses »Abhängen« propagieren möchte. Das Nichtstun kann auch als »Nicht-Zielgerichtetes-Tun« verstanden werden, das Tun wird also zum erfüllenden Selbstzweck und ist nicht mehr Mittel zu einem anderen Zweck. Eine große Quelle für Zufriedenheit sind glückliche soziale Beziehungen. Sie sind nicht nur ein wichtiger psychologischer Puffer in Stressphasen, sondern auch ein entscheidender Faktor für einen gesunden Alterungsprozess. Doch diese Beziehungen können nicht entstehen, wenn wir alle Menschen in unserem Umfeld nur als Mittel zu irgendeinem Zweck betrachten. Wir haben ein Sensorium für diese »zwecklose« Art der Zufriedenheit, die sich erfüllender und langanhaltender anfühlt als die momentane Erleichterung darüber, Leistung erbracht zu haben. Damit dieses Sensorium wieder geschärft wird, bietet Niederberger zu jedem Kapitelende Praxisübungen an.
Die zehn Kapitel seines Buchs haben griffige Überschriften wie »Genießen ist mehr als Konsumieren« oder »Muße ist mehr als Träumen«. Sie sind durchsetzt mit Zitaten von Menschen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis des Autors. Ich fand diese Teile nicht unbedingt inspirierend, da sie etwas langwierig und ungeordnet sind. Zudem speisen sich die Argumente des Autors kaum aus diesen Zitaten, sondern eher aus seiner Lebenserfahrung und seinem Bildungsschatz.
Lukas Niederberger erhebt sicher nicht den Anspruch, ein wissenschaftliches Fachbuch vorzulegen. Dennoch ist kritisch anzumerken, dass seine kleine qualitative Studie auch nicht repräsentativ ist. So kommen etwa junge Menschen kaum zu Wort, obwohl gerade jüngere Generationen aktuell intensiv versuchen, ihre eigenen Antworten auf toxischen Leistungsdruck zu finden. Viele Jüngere sind gern bereit, auf Konsum zu verzichten, um einen größeren Anteil ihrer Zeit frei und selbstbestimmt für Selbstverwirklichung und Soziales zu nutzen. Dennoch hilft dieses Buch dabei, vermeintliche »Aussteiger« und »Verweigerer« besser zu verstehen. Und es bietet auch Menschen fortgeschrittenen Alters Hinweise, wie sie sich wieder auf das Wesentliche besinnen und die ruhigeren Zeiten des Lebens achtsamer und erfüllter verbringen können.
So viel ist für mich klar: Ein Mensch, der Muße, Kreativität und Einsicht durch Entschleunigung findet, wird nicht auf der vierten Terrasse in Dantes Fegefeuer landen, wo die Faulen zur Strafe pausenlos hin und her gehetzt werden. Vielmehr kann er zwei der wichtigsten existenziellen Fragen ins Auge zu fassen: Worum geht es mir eigentlich im Leben? Und was macht mich nachhaltig zufrieden? Fragen, auf die auch Blaise Pascal kluge Antworten fand, als er ruhig in seinem Zimmer saß.
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