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Evolution der Kultur

Philosophische Überlegungen zur Entwicklung des menschlichen Geistes

Wie zeigt sich das Bewusstsein? Die Antwort des US-amerikanischen Philosophen Daniel Dennett lautet: Im Selbstgespräch als Bewusstseinsstrom, was allerdings erst die Sprache ermöglicht hat. Denn diese erlaubt, auf Informationen und Kompetenzen anderer Menschen zurückzugreifen. Sie sei auch der Grund, weshalb sich die kognitiven Fähigkeiten des Menschen im Vergleich zu denen von Tieren so exorbitant verbessert haben, erklärt der Professor für Philosophie von der Tufts University in Boston.

Die Kultur entwickelt sich dank diverser Techniken, die Dennett in Anschluss an Richard Dawkins als »Meme« bezeichnet – ein Begriff, der in der angelsächsischen Kulturtheorie besonders verbreitet ist. Meme sind alle tradierten Wissensformen, die den Umgang mit Natur oder anderen Menschen verbessern, etwa Sprache, Sitten und Gebräuche, Melodien, Handwerkstechniken, aber auch Kleidermoden. Sie werden von Generation zu Generation weitergegeben, erweitert und optimiert. Für Dennett agieren Meme wie Viren, die in das Gehirn des Wirts wandern und diesen beeinflussen.

Von unten nach oben und zurück

Dies seien aber zunächst meist nicht geplant. Wenn jemand sein Kanu verbessere und sich diese Technik als so vorteilhaft erweise, dass sie sich kulturübergreifend durchsetze, werde er selbst dies vermutlich nicht mehr miterleben. Dass er damit ein Mem geprägt habe, welches den Nachgeborenen nutze, sei in der Regel nicht die ursprüngliche Intention gewesen, meint der Autor. Vielmehr sei dies ein Beispiel für so genannte Bottom-up-Prozesse, die nicht nur bei kulturellen Entwicklungen stattfänden, sondern auch bei der biologischen Evolution. Dennett vergleicht Meme mit Genen: So wie Gene uns beeinflussen, ohne dass uns dies bewusst ist, prägen Meme uns als Kulturmenschen weitgehend »still« und im Hintergrund. Im Lauf der Entwicklung bieten sich Dennett zufolge allerdings Chancen, dies umzukehren. Zunehmend, so meint er, spielten geplante Top-down-Aktivitäten eine Rolle, bei denen leitende Personen bewusst bestimmte Zwecke verfolgen und entsprechende Kompetenzen und Mittel einsetzen – man denke an die Forschung oder an politische Institutionen.

In seinem Werk überträgt der inzwischen 76-jährige Philosophie-Professor die Evolutionstheorie auf die Kultur. Beide beruhen laut Dennett auf vergleichbaren Mechanismen, nämlich Genen und Memen, die meist wirken, ohne dass ihren Trägern dass bewusst wird. Der »Geist« entspricht demnach nicht nur dem Bewusstsein des Menschen, sondern auch den kulturprägenden Memen. Natur und Kultur, so der Autor, bilden daher eine Einheit.

Das Buch resümiert Dennetts 50-jähriges Engagement für eine materialistische Kulturtheorie sowie die Debatte über die Herkunft des Menschen und der Kultur. Mit seinem Opus Magnum will der Autor den »Geist« und das Bewusstsein auf natürliche materielle Grundlagen zurückführen und rein geistige oder religiöse Interpretationen widerlegen. Seine Argumentation ist nicht zuletzt durch Beispiele nachvollziehbar und sein Werk auf hohem Niveau unterhaltsam, obgleich es auf Grund der Komplexität und Vielfalt des Stoffs eine gründliche Lektüre verlangt.

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