»Von tanzenden Galaxien, Dunkler Materie und anderen kosmischen Rätseln«: Stolpersteine im Galaxientanz
Die Kosmologie hat sich in den letzten dreißig Jahren ein extrem erfolgreiches Standardmodell erarbeitet, das in großen Computersimulationen über weite Strecken die Entwicklung des Universums beschreiben kann. Marcel S. Pawlowski untersucht das, was aktuelle Simulationen nicht korrekt beschreiben – etwa die Zahl und Bewegungen kleiner Galaxien. Führt das zu einer Krise, die uns irgendwann zwingen wird, dieses Modell durch ein radikal anderes zu ersetzen?
»ΛCDM« (oder »Lambda-CDM«) – so lautet der schmucklose Name des kosmologischen Standardmodells. Es steht für ein Universum, dessen Entwicklung durch eine kalte Dunkle Materie dominiert wird und in dem es einen zusätzlichen (Λ-)Term gibt, den man als »Dunkle Energie« bezeichnet. Zwar kann man mit diesem Modell nicht präzise ausrechnen, wie sich das Universum entwickelt, aber man kann es immerhin simulieren. Aufwendige Computersimulationen auf Großrechnern sind dazu nötig, und sie zeigen Verblüffendes: Wir verstehen mittels ΛCDM die Geschichte des Universums und können nicht nur die Details der kosmischen Hintergrundstrahlung und die Elementhäufigkeiten verstehen, sondern auch, wie sich Galaxien bilden und welche Eigenschaften sie haben. Wer wollte da noch an der Leistungsfähigkeit von ΛCDM zweifeln?
Man muss schon mit der Lupe suchen, um Risse im Standardmodell zu finden. Doch genau das macht Wissenschaft aus: Etablierte Theorien werden ausgiebig getestet, und manchmal findet man Unstimmigkeiten, die dann das Tor zu einer komplett neuen Sicht eröffnen. Quantenmechanik und Relativitätstheorie sind so entstanden. Marcel S. Pawlowski präsentiert in seinem Buch vier solche Risse – alles Themen, an denen der Potsdamer Theoretiker selbst arbeitet.
Teil 1 geht den Fragen nach, wie viele Galaxien welcher Größe es laut den Simulationen geben sollte – und wie viele man tatsächlich beobachtet. Und es gibt (oder gab zumindest) eine eklatante Differenz zwischen der Zahl der simulierten und der beobachteten Satellitengalaxien, also kleinerer Galaxien, die gravitativ an ein größeres System wie etwa die Milchstraße gebunden sind.
In Teil 2 geht es dann darum, was Zwerggalaxien wiegen und dass die beobachtete Verteilung der Masse in ihnen nicht dazu passt, was die ΛCDM-Simulationen diesbezüglich zeigen. Teil 3 kümmert sich um eine spezielle Beziehung zwischen der gemessenen Beschleunigung und der Masseverteilung; denn sie entspricht für einen sehr großen Teil der Galaxien dem, was man allein im Hinblick auf die »normale«, sichtbare Materie als Ergebnis erwarten würde – so, als ob es keine Dunkle Materie gäbe. In Teil 4 kümmert sich der Autor dann darum, dass die Bewegungen und die Anordnung von Satellitengalaxien im Vergleich zu den Simulationen viel zu regelmäßig zu sein scheinen. Der Autor erläutert in jedem der vier Teile das jeweilige Problem und diskutiert mögliche Lösungsansätze. So ergibt sich eine abwechslungsreiche Einführung in verschiedene Bereiche der Astronomie, die aber nicht systematisch ist, sondern eben das erläutert, was man zum Verständnis der jeweiligen Fragestellung gerade braucht.
Die Auswahl der Beispiele steuert die Theorie
Ein etwas ungewöhnliches Beispiel zieht sich durch alle Kapitel: Da Galaxiendynamik im Wesentlichen eine Anwendung der Newtonschen Schwerkraft ist, versucht Pawlowski, die Prozesse in Galaxien mit Blick auf die Erlebnisse einer Astronautin auf einer Reise zum Mond zu veranschaulichen. Das bringt zwar die Skalen auf menschlich begreifbarere Größen, beinhaltet aber die Schwierigkeit, dass man als Leser mit physikalischen Experimenten in der Schwerelosigkeit vertraut sein müsste, um dem Vergleich komplett folgen zu können. Oder wüssten Sie, wie eine Wasserschlacht im All aussähe? Unklar ist auch, wem der mathematische Einschub auf S. 159/160 etwas bringen soll – denn er ist der einzige seiner Art, und die Rotationsbewegung im Schwerkraftfeld hätte man auch ohne Formeln erklären können. Abbildungen gibt es nur wenige, und die sind leicht verbesserte Handskizzen, die ganz bestimmt keinen Schönheitspreis gewinnen.
Die größte Schwäche des Buchs ist jedoch eine inhaltliche: Der Autor hat die vier vorgestellten Probleme genau so ausgewählt, dass sie suggerieren, ein modifiziertes Gravitationsgesetz könne sie lösen. Es geht hier um die »MOND« genannte Theorie (nach »Modifizierte Newtonsche Dynamik«), die bei schwachen Werten der Beschleunigung (wie in den Außenbezirken von Galaxien) eine veränderte Kraft voraussagt. Zwar bleibt die Diskussion im Buch ergebnisoffen, doch der Autor liebäugelt offensichtlich mit diesem Ansatz, der in der Forschergemeinde nur einen kleinen, aber hartnäckigen Unterstützerkreis hat. Ihm zufolge gäbe es keine Dunkle Materie, und viele Beobachtungen müssten anders erklärt werden. Insbesondere ist hier das Muster der Hintergrundstrahlung zu nennen, das sich ohne Bezug auf die Dunkle Materie nicht rekonstruieren ließe. Die meisten Kosmologen würden wohl zu der Einschätzung kommen, dass dieses Problem der MOND-Theorie gravierender ist als die vergleichsweise kleinen Ungereimtheiten im Tanz der Galaxien, die bei der Anwendung des ΛCDM-Modells entstehen. Eine dies abwägende Diskussion fehlt aber in Pawlowskis ansonsten durchaus lesenswertem Buch.
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