»Wahnsinnig intelligent«: Ein Plädoyer für Neurodivergenz – und KI
»Intelligenz« – bei diesem Stichwort denken viele an Albert Einstein. Wie kein anderer hat der Begründer der Relativitätstheorie unser Bild des unfassbar schlauen, aber zerstreuten Professors mit wirren Haaren geprägt. Ähnlich voll und chaotisch wie auf seinem Kopf sah es offenbar auch in ihm aus – denn Einstein sei nicht nur äußerst intelligent, sondern sehr wahrscheinlich auch neurodivergent gewesen, schreibt André Frank Zimpel.
Prägende Charakterzüge Einsteins deuten laut dem Erziehungswissenschaftler und Psychologen auf eine mögliche ADHS, autistische Züge, Hochsensibilität und/oder Legasthenie hin. Eine eindeutige Diagnose könne zwar nicht gestellt werden, meint Zimpel. Dennoch illustriere das Beispiel des weltbekannten Physikers, welch wichtigen Beitrag diejenigen für den gesellschaftlichen Fortschritt leisten könnten, die jenseits der Norm denken – und das, obwohl Neurodivergenz laut Zimpel im Bildungswesen und in der Arbeitswelt damals wie heute »als Intelligenzdefizit, mangelnde Anpassungsbereitschaft oder Modediagnose heruntergespielt« würde.
Die enorme Mehrleistung, die neurodivergente Menschen im Alltag erbringen müssten, werde in der Regel weder erfasst noch anerkannt, schreibt Zimpel, der das Zentrum für Neurodiversitätsforschung (ZNDF) in Hamburg/Eppendorf leitet: »Sie verbrauchen einen großen Teil ihrer Intelligenz, ihrer Kreativität und ihrer einmaligen Fähigkeiten oft nur dafür, Normen zu erfüllen und nicht aufzufallen. Dabei fehlen diese Intelligenzen, Kreativitätsquellen und einmaligen Perspektiven in unserer Gesellschaft und Wirtschaft an allen Ecken und Enden.«
Dieses Defizit werde im direkten Vergleich mit künstlicher Intelligenz (KI) besonders deutlich, meint der Autor. Denn KI-Systeme könnten zwar »endlose Mengen an Fakten anhäufen«, sich aber eben nicht geistig weiterentwickeln. Sie arbeiteten mit »rekombinierter Durchschnittsbildung«. Im Gegensatz dazu dächten neurodivergente Menschen oft fernab des Durchschnitts und jenseits des Berechen- und Erwartbaren – eine enorme Ressource, die mit klassischen Intelligenztests kaum abgebildet werden könne.
Im Verbund mit der KI
Der Schlüsselfaktor hierfür – sowohl für die meist schwächeren IQ-Testergebnisse als auch für den tiefgreifenden Unterschied zur formal-logischen Intelligenz der KI – ist laut Zimpel »die tief in der Biologie verwurzelte menschliche Aufmerksamkeit«. Denn Menschen mit ADHS oder Autismus richteten diese in der Regel anders aus als neurotypische Personen. Im autistischen Spektrum ist die Aufmerksamkeit demnach stark auf Details fokussiert, bei einer ADHS verteile sie sich hingegen gleichzeitig auf viele Eindrücke. Das Potenzial, das laut dem Autor in diesen besonderen Funktionsweisen des Gehirns steckt, könne sich dank KI künftig noch besser entfalten: Da sie das Gehirn von formal-logischen Aufgaben entlaste, schaffe sie neue Kapazitäten für kreatives und einzigartiges Denken.
Erklärtermaßen optimistisch blickt der Autor daher in die Zukunft mit künstlicher Intelligenz. Sie ist für ihn Ausdruck menschlicher Schöpfungskraft, ein Kulturgut, das gleichzusetzen sei mit der Schriftsprache der Antike und dem Buchdruck der Neuzeit. Während Zimpel das Potenzial einer fruchtbaren Symbiose zwischen KI und Neurodivergenz für das Wohl der Menschheit betont, spart er eine tiefergehende Diskussion über mögliche Gefahren von KI leider aus.
Das Buch überzeugt vor allem durch die pointierte Kritik des Autors an gesellschaftlichen Normen, die neurodivergente Menschen bis an den Rand der Erschöpfung zwingen. André Frank Zimpel fordert völlig zu Recht, dass die Vielfalt menschlicher Nervensysteme stärker anerkannt und entsprechend individuell gefördert werden sollte – ein Plädoyer, das nicht nur im Hinblick auf unsere Zukunft im KI-Zeitalter Gehör finden sollte.
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