Mathematik in Hülle und Fülle
Das Buch des jungen britischen Mathematikers Kit Yates hat es innerhalb weniger Wochen in die Bestseller-Listen geschafft: zunächst 2019 in Großbritannien und in den USA (»The Maths of Life and Death«) und nun auch bei uns. Inzwischen wurde es in 20 Sprachen übersetzt. Yates ist nicht der Erste, der sich bemüht, die breite Öffentlichkeit über die bedeutende Rolle der Mathematik in vielen Lebensbereichen aufzuklären. »Warum Mathematik (fast) alles ist« stellt einen weiteren und in großen Teilen gelungenen Beitrag dar, ist aber keine »leichte Kost«.
Sieben mathematische Geschichten
Yates hat eine Fülle von Fakten zu sieben Geschichten gebündelt, die – zusammen mit einem ausführlichen, für wissbegierige Leser hilfreichen Quellen- und umfangreichen Stichwortverzeichnis – zu einem Buchumfang von 350 Seiten führen.
Im Vorwort kündigt der Autor an, das vorliegende Buch sei nicht für Mathematiker geschrieben, man finde darin keine einzige Formel. Während Erstes zutrifft, kann man die zweite Aussage nur im eigentlichen Wortsinn bestätigen: Denn auch Yates kommt nicht ohne Rechnungen aus, die er gemäß einem formelhaften Schema durchführt. Irritierend erscheint es hingegen, dass der vom Verlag gewählte Einband ausgerechnet die aus dem Mathematikunterricht bekannten Formeln des Satzes von Pythagoras und zur Lösung einer quadratischen Gleichung zeigt (die im Buch überhaupt keine Rolle spielen).
Yates ist Dozent am Department of Mathematical Sciences und am Centre for Mathematical Biology der University of Bath. Die besondere Beziehung des Autors zur Biologie wird bei der Auswahl der behandelten Themen durchgängig sichtbar. Den Anfang macht ein Kapitel über exponentielles Wachstum: Zahlenbeispiele zur Vermehrung von Milchsäurebakterien, Finanz-Betrügereien durch Schneeballsysteme, Wachstum des menschlichen Embryos während der Schwangerschaft, Funktionsweise der Atombombe, das Unglück von Tschernobyl oder die Altersbestimmung durch Radiometrie verdeutlichen die typischen Eigenschaften von Vorgängen dieser Art. Am Beispiel der Bevölkerungsentwicklung geht er schließlich auch auf das logistische Wachstum ein.
Das zweite Kapitel widmet sich dem Thema »Sensitivität und Spezifität« von Gesundheitstests und der Tatsache, dass falsch positive und falsch negative Testergebnisse praktisch unvermeidbar sind. Anhand zahlreicher Einzelfälle schildert Yates, welche tragischen Folgen Fehlschlüsse haben können, und er rät zu Gelassenheit, wenn man nach einem medizinischen Test ein positives Testergebnis erhält. Die zur Verdeutlichung erforderlichen Rechnungen begründet er durch Baumdiagramme und deren Umkehrung – also mit Methoden, wie sie heute im Mathematikunterricht der Abschlussklassen auftauchen.
Auch das dritte Kapitel, das sich insbesondere mit spektakulären Fehlurteilen der Justiz beschäftigt (wie Sally Clark oder Amanda Knox), enthält nicht gerade triviale Überlegungen zu Wahrscheinlichkeiten, darunter den Ökologischen Fehlschluss, bei dem man Merkmale einer Gruppe auf Individuen abbildet, oder das Simpson-Paradoxon, das von der Kombination von Ergebnissen verschiedener Gruppen handelt. Ähnliches gilt für die im nachfolgenden Kapitel erläuterten Beispiele anderer statistischer Fehlschlüsse und stochastischer Paradoxien wie das bekannte Geburtstagsproblem.
Das fünfte Kapitel enthält eine Sammlung von Pannen, die durch Fehlberechnungen entstanden, etwa weil man unterschiedliche Einheitssysteme nutzte (wie bei der Mars-Orbiter-Katastrophe 1999) oder nicht genau genug rechnete. Letzteres war im ersten Golfkrieg fatal: Die Patriot-Raketen verfehlten die ankommenden feindlichen Flugkörper, weil man die Zeit mit einer Beschränkung auf 24 Stellen in Einheiten des Dualsystems berechnete. Die Hälfte der amerikanischen Toten sind auf diesen Fehler zurückzuführen.
Dass Optimierungsalgorithmen in unserer heutigen Welt eine große Rolle spielen, verdeutlicht Yates im sechsten Kapitel. Vom Optimalen Sortieren von Daten über das Problem des Handlungsreisenden hin zum Rucksackproblem (optimales Packen) gelangt der Autor schließlich zur Grundsatzfrage, ob sich die Problemklassen vom Typ P beziehungsweise NP tatsächlich unterscheiden. Abschließend geht er auf automatisierte Preisanpassungen und die automatisierte Auswahl von Nachrichtentrends ein.
Offensichtlich hat Yates aus aktuellem Anlass für die deutsche Fassung noch kurzfristig einige Anmerkungen zu Covid-19 eingefügt, die im englischen Original nicht enthalten sind, da zum damaligen Erscheinungsdatum (September 2019) niemand etwas von der Pandemie ahnte. Wer die ersten Abschnitte dazu durchliest, findet das gesamte Vokabular wieder, das in den letzten Wochen Nachrichten und Talkshows dominiert hat: Patient null, Reproduktionsrate, Herdenimmunität, Impfquote, Quarantäne, Inzidenz und so weiter. Die Begriffe erläutert Yates an zahlreichen Krankheiten, die sich in vergangenen Jahrhunderten (etwa Pest, Pocken, Malaria, Tuberkulose) oder den letzten Jahrzehnten (wie Masern, Röteln, HIV, HPV, Sars) epidemisch ausgebreitet haben. Yates versucht dabei an den vorgestellten Beispielen epidemische Entwicklungen und die Wirkungen der jeweils gewählten Gegenmaßnahmen zu veranschaulichen. Anders als die vorigen Kapitel besitzt der letzte Abschnitt einen geringen Unterhaltungswert, was natürlich der Natur des Themas geschuldet ist.
Wenn man bedenkt, welche Themen allein in dieser Rezension aufgelistet sind, kommt man nicht umhin, den Klappentext des Buchs als irreführend oder zumindest als verharmlosend anzusehen: Dort werden nur »banale« Fragen wie die Auswahl der kürzesten Schlange vor einer Supermarktkasse angesprochen. Wer an der eindrucksvollen Sammlung von Beispielen interessiert ist, sollte sich für ein vollständiges Verständnis genügend Zeit nehmen und bereit sein, auch die Erläuterungen zu den dahinterstehenden komplexen Sachverhalten durchzuarbeiten.
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