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Vom Lockruf der Dinge

Erich Fromms Weltbestseller "Haben oder Sein" prägte in den 1970er Jahren eine ganze Generation. Fromms kluge Analyse zweier menschlicher Existenzweisen, die in seinen Augen gegensätzlich waren, beeindruckt auch rund vierzig Jahre später noch. Doch die psychologische Forschung hat sich weiterentwickelt. Manches, was zu Zeiten des berühmten Psychoanalytikers und Sozialpsychologen en vogue war, gilt heute als widerlegt.

An dieser Stelle setzt der Sozialpsychologe Jens Förster an. In seinem neuen Buch "Was das Haben mit dem Sein macht" versucht er, das Thema aus heutiger Sicht zu beleuchten. Im Gegensatz zu Fromm, der scharf die kapitalistisch motivierte Konsumgesellschaft kritisierte, möchte Förster eine materialistische Einstellung nicht grundsätzlich verteufeln. Sehr wohl aber verweist er auf die fatalen Folgen für Menschheit und Erde, die aus übermäßigem Konsum resultieren. Also stellt er motivationspsychologische Überlegungen über unser Kaufverhalten an und widmet sich dabei den fließenden Übergängen vom gesunden Konsum zur Kaufsucht, vom belebenden Verzicht zum übertriebenen Sparzwang.

Mitteilungsfreudige Darstellung

Förster erläutert scheinbar geläufige Begriffe und prüft sie auf ihre Bedeutung und ihren Nutzen: "horten", "sammeln", "raffen","teilen", "tauschen" und "spenden". Aus seinen Betrachtungen entwickelt er eine Theorie von Haben und Sein. Darin ergeben sich aus den Zielen dieser beiden Existenzweisen sowie aus den Mitteln, um diese Ziele zu erreichen, vier verschiedene Persönlichkeitstypen.

Wie schon in seinem Vorgängerwerk "Unser Autopilot" erzählt der Autor das alles im beschwingten Plauderton. Förster unterhält seine Leser mit zahlreichen Alltagsbeispielen, Anekdoten und persönlichen Schilderungen, und das an vielen Stellen durchaus erhellend. Allerdings wäre das Buch ohne sie vermutlich mit der halben Seitenzahl ausgekommen.

Schwierig wird es, wenn der Autor die zentralen Begriffe "Haben" und "Sein" einzugrenzen sucht. Er gibt die frommschen Definitionen mitunter ungenau und missverständlich wieder und bemüht sich kaum darum, sie zu hinterfragen. Für Fromm waren Haben und Sein zwei Wege, zu leben. Förster dagegen verbindet mit einer Haben-Orientierung in erster Linie Geld, sprich "etwas kaufen wollen". Tätigkeiten wie lesen oder reden wiederum assoziiert er mit "Sein", dabei auf Fromm verweisend. Diesem zufolge können aber auch Tätigkeiten wie das Lesen im Modus des Habens stattfinden – nämlich dann, wenn wir ein Buch "fertigkriegen" wollen und dabei weder Freude noch inneres Tätigsein spüren.

Du bist mein

Fromms berühmtes Werk thematisierte alle Bereiche des Daseins und warnte davor, dass sich das "Haben" auf alle Lebensbereiche übertragen könne, indem wir mit dieser Einstellung etwa lieben und unsere Partner aussuchen. Förster reißt das kurz an, geht aber nicht weiter darauf ein und erschafft sodann seine eigenen, stark vereinfachten Definitionen. Hierbei fokussiert er im Wesentlichen auf das menschliche Konsumverhalten.

Es könnte ein Gewinn sein, Fromms Analyse von "moralischer Keule" und politischer Gesinnung zu befreien und das Thema psychologisch unvoreingenommen zu untersuchen. Falls Förster dies vorhatte, hat er sein Ziel verfehlt – trotz manchen klugen Gedankens.

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