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Exemplarischer Tod

Der Philosoph Agamben dichtet dem Physiker Ettore Majorana ein radikales Selbstexperiment an.

Vor fast 100 Jahren hat die Quantenphysik die Wahrscheinlichkeit als fundamentalen Bestandteil der Natur postuliert. Seither beschäftigt Physiker und Philosophen die Frage »Was ist Wirklichkeit?« immer wieder aufs Neue (siehe Titelthema von »Spektrum« Oktober 2020). 1927 wird die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik formuliert, acht Jahre später verdeutlicht Erwin Schrödinger (1887–1961) mit seinem berühmten Gedankenexperiment die volle Tragweite dieser Wahrscheinlichkeitsinterpretation. Schrödingers Katze, die nicht weiß, ob sie nun schnurren darf oder für immer verstummen muss, ist längst das Symbol für die Quantenphysik und ihre – vermeintliche – Unverständlichkeit geworden.

Mysteriöses Verschwinden

Der junge Physiker Ettore Majorana (1906–1938?), ein hochbegabter, sensibler und labiler Mensch, erlebte die dramatischen Entwicklungen in der Physik der 1920er und 1930er Jahre hautnah mit. Der Nachwuchswissenschaftler, den der Jahrhundertphysiker Enrico Fermi als ein Genie vom Rang eines Newton oder Galilei ansah, musste erkennen, dass das Leben nicht nur unvorhersehbar und wechselhaft ist, weil es das »Resultat einer Vielzahl unbekannter Ursachen« ist, sondern weil der Zerfall eines einzigen radioaktiven Atoms schon der »Ursprung menschlicher Ereignisse« sein kann. Welche Wirkung diese Einsichten auf Majorana hatten, lässt sich nur vermuten.

Giorgio Agamben ist ein viel gelesener, hauptsächlich politischer Philosoph, der sich mit Fragen zum Verhältnis des Menschen zur Kultur, Macht und zum Staat beschäftigt. Das Buch »Was ist Wirklichkeit?« zählt zu seinen vielen Essays. Darin veröffentlicht der Autor einen Aufsatz aus Majoranas Nachlass, der zwar bereits 1942 veröffentlicht wurde, aber nun in deutscher Übersetzung vorliegt: »Die Bedeutung statistischer Gesetze in der Physik und den Gesellschaftswissenschaften«. Um zu verstehen, was Agamben damit vorhat, muss man die Umstände um das Verschwinden des Ettore Majorana kennen.

Der junge Wissenschaftler beschäftigte sich in der Forschergruppe um Fermi mit Elementarteilchenphysik. Heutigen Physikern begegnet er meist durch die nach ihm benannten hypothetischen Majorana-Teilchen. Dabei handelt es sich um Partikel, die zugleich ihre eigenen Antiteilchen sind. Die Frage, ob etwa Neutrinos zu dieser Klasse gehören, ist noch nicht abschließend beantwortet.

1937 wurde Majorana als Professor an die Universität Neapel berufen. Schon damals machten sich Anzeichen einer Depression bemerkbar. Schließlich bestieg der Physiker am 25. März 1938 einen Dampfer, der von Neapel nach Palermo auslief. Am Tag der Abreise und noch einen Tag später verschickte er verschiedene Abschiedsbotschaften mit widersprüchlichem Inhalt, so dass sich ein Suizid des damals 31-Jährigen zumindest nicht ausschließen lässt. Seitdem ist Ettore Majorana verschwunden. Polizeiliche Suchaktionen blieben ergebnislos.

Hier könnte die tragische Geschichte eines Unglücklichen zu Ende sein, doch in Italien schaffte es der Vorfall in die Schlagzeilen und wurde immer wieder aufgewärmt. Es entstanden Aufsätze, Bücher und Filme, sogar eine Oper wurde komponiert (Uraufführung 2017). Erheblichen Anteil am Mythos Majorana hat das Buch »La scomparsa di Majorana« (deutsch: Das Verschwinden des Ettore Majorana) des italienischen Schriftstellers Leonardo Sciascia, das 1975 erschien. In dem Werk, das auch auf Deutsch mehrfach aufgelegt wurde, konstruiert Sciascia die These, das Genie habe die Gefahren der Atomphysik vorausgesehen und sich aus moralischen Gründen aus der Forschung zurückgezogen.

Die romantische Verklärung des einsamen, aber weitsichtigen Genius, das die Tragweite der modernen Physik erkannte und daraus radikale Schlussfolgerungen zog, nimmt Agamben in seiner Schrift in fast schon zynischer Weise wieder auf. Nun ist es nicht mehr die Furcht vor Atomwaffen (die H. G. Wells bereits 20 Jahre früher in seinem Roman »The World Set Free« beschrieb), die Majorana dazu bewegt, sich von der Welt abzuwenden. Stattdessen habe er die Konsequenzen vorhergesehen, welche die Einführung der Wahrscheinlichkeit in die Physik mit sich bringt. Agamben stellt die Hypothese auf, Majorana mache mit seinem Verschwinden »seine Person zur exemplarischen Chiffre des Status des Realen im probabilistischen Universum«. Diese These ist nicht nur wenig überzeugend und unwahrscheinlich, sondern auch sehr weit hergeholt.

Man kann das Buch mit Gewinn lesen, wenn man die gut 50 Seiten überspringt, in denen Agamben philosophische Überlegungen über das Wesen der Wahrscheinlichkeit teilt, und nur den Aufsatz Majoranas betrachtet. Darin beschreibt dieser zunächst mit kristallklarer Sprache den Unterschied zwischen der klassischen und der Quantenphysik. Anschließend stellt er die Frage, ob »eine echte Analogie zu gesellschaftlichen Verhältnissen besteht«. Diesen Gedanken führt er nicht weiter aus, sondern endet in nebulösen Formulierungen, die zu weiteren Spekulationen einladen.

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