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Die vielen Facetten der Zeit

Was die Zeit ist? Was soll die Frage, könnten Physiker antworten – ich schaue auf die Uhr und sage dir, wie spät es ist, dann weißt du die Zeit.

Aber so einfach wird man mit dem Problem nicht fertig. Wie Truls Wyller, Philosophieprofessor an der Universität Trondheim in Norwegen, in seinem ansprechenden kleinen Buch demonstriert, hat der Zeitbegriff viele Aspekte. Wenn wir uns an frühere Phasen des eigenen Lebens erinnern, erfahren wir biografische Zeit. Historiker erforschen Zeugnisse früherer Menschheitsepochen – und finden in der Vergangenheit Indizien für eine Geschichte der Zeit selbst. Als es noch keine Uhren gab, zählten Ackerbauer und Viehzüchter die Tage und Nächte und verfolgten den Wandel der Jahreszeiten, woraus sie zyklische Zeitvorstellungen entwickelten. Erst seit präzise Geräte immer und überall Datum und Uhrzeit angeben, verschwindet die erlebte Zeit hinter der Auskunft, wie spät es ist.

Innen- und Außenperspektive

Wyller interessiert vor allem die Frage: Wie hängen erlebte und gemessene Zeit zusammen? Der französische Philosoph Henri Bergson (1859-1941) unterschied die Begriffe "temps" (Zeit als Uhrzeit) und "durée" (Dauer als Erlebniszeit). Der englische Denker John McTaggart Ellis McTaggart (1866-1925) traf eine ähnliche Unterscheidung, indem er zwei Betrachtungsweisen hervorhob: Einerseits bezeichnen wir ein Erlebnis von unserem subjektiven Standpunkt aus als vergangen, gegenwärtig oder zukünftig – andererseits klassifizieren wir Ereignisse relativ zu einem objektiven Zeitpunkt als "früher", "gleichzeitig" oder "später". McTaggart zog aus der vermeintlichen Unvereinbarkeit beider Sichtweisen die radikale Konsequenz, die Zeit sei eine Illusion. Ähnlich meinte auch Albert Einstein gelegentlich, das Vergehen der Zeit erscheine uns nur als solches; in Wirklichkeit gebe es keinen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – alles existiere einfach in der physikalischen Raumzeit.

Die Frage nach dem Doppelgesicht der Zeit erinnert an das so genannte Qualia-Problem in der Bewusstseinsforschung: Was hat das "qualitative" Erlebnis der Farbe Rot mit entsprechenden quantitativ messbaren Hirnvorgängen zu tun? Zugespitzt diskutieren Neurophilosophen diese Frage in Form eines Gedankenexperiments: Die fiktive Neurologin Mary lebt von Geburt an in einem fensterlosen, rein schwarzweißen Zimmer, wo sie das gesamte Wissen über Farbwahrnehmung nur aus Büchern kennen lernt. Wenn nun ein Fenster geöffnet wird und Mary erstmals Farben erlebt – erfährt sie dabei etwas Neues?

Was der Verstand nicht kann

Wyller führt am Ende seines Essays ein ganz analoges Gedankenexperiment zum Zeitproblem ins Treffen: Ein Mann wird durch einen Schlag so verletzt, dass er sein Gedächtnis verliert, aber weiterhin logisch denken und Bücher lesen kann. Er besitzt kein Zeitbewusstsein, verschlingt aber ganze Bibliotheken über Naturforschung. Nun fragt Wyller: Was fehlt dem Mann eigentlich? Er weiß doch alles, was man über Raum, Zeit und Natur wissen kann. Nur: Er erlebt die Zeit nicht.

Die von Wyller schließlich skizzierte Lösung für das Qualia-Problem der Zeit empfinde ich als unverständlichen Wortsalat. Das liegt vielleicht daran, dass es sich um ein Scheinproblem handelt – wie das der amerikanische Philosoph Daniel Dennett in Bezug auf das Qualia-Problem der Bewusstseinsforschung meinte. Mein höchstpersönliches Erleben von Gerüchen, Farben und dem Vergehen der Zeit bleibt genau so lange unaussprechlich, wie ich nicht mit anderen darüber kommuniziere. Doch sobald ich Worte dafür finde – ob mythisch, lyrisch, philosophisch oder naturwissenschaftlich –, ist es nicht mehr ausschließlich mein ureigenes Privaterlebnis.

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