Direkt zum Inhalt

Aussterbende Klasse?

»Adel verpflichtet« – und das unterscheide ihn vom Bürgertum, so die These dieses Buchs.

In seinem neuen Buch widmet sich der Zeit-Feuilletonist Jens Jessen in kurzweiligen Anekdoten den Wertesystemen von Aristokratie und Bürgertum. Dabei stellt er sich die Frage, was unsere Gesellschaft seit der Abschaffung der Monarchie vor rund hundert Jahren verloren hat. Wie ein Ethnologe betrachtet der Autor die »wenigen noch lebenden blaublütigen Fossilien« aus bürgerlichem Blickwinkel. Dabei kann er wohl aus seinem eigenen, offenbar reichhaltigen Erfahrungsschatz im Umgang mit Adligen schöpfen. Außerdem verweist er immer wieder auf Darstellungen in der Literatur, beispielweise bei Stendhal, und unterfüttert seinen Text mit zahlreichen Fußnoten, in denen er dem Leser weitere Hintergrundgeschichten bietet. Hier kommen etwa Adelsvertreter selbst zu Wort und kommentieren bestimmte Verhaltensmuster ihrer Standesgenossen. Die Geschichten bringen einen oft zum Schmunzeln. Doch halten sie der heutigen Gesellschaft auch den Spiegel vor, ohne dabei den Monarchismus zu glorifizieren.

So nimmt Jessen immer wieder die bürgerliche Leistungsfixiertheit und Selbstoptimierung ins Visier: Nützlich sei, wer produktiv ist; wertvolle Arbeit müsse Profit bringen. Eine solche Haltung drängt jene an den Rand, die keinen oder nur einen geringen Beitrag in der Gesellschaft leisten können – vor allem Alte und Kranke. Dieses bürgerliche Denken, so Jessen, bilde den krassen Gegensatz zum adligen Weltbild. Denn »Adel verpflichte«: Er stehe bedingungslos zur eigenen Familie und den Standesgenossen, auch im Alter oder bei Krankheit; Kollektivbewusstsein sei wichtiger als individuelle Bedürfnisse. Diesen Standpunkt dürfte nicht jede(r) teilen, doch dass Jessen die Provokation nicht scheut, hatte er schon Anfang des Jahres bewiesen, als er die MeToo-Debatte mit bolschewistischen Schauprozessen verglich.

An der Beständigkeit des Adels mangele es dem leistungsfixierten Bürgertum, meint der Autor. Und genau darin wurzele das breite Interesse an royalen Hochzeiten sowie die Schaulust an den gesellschaftlichen Entgleisungen der »Von-und-Zus«. Jessen sieht darin den Ausdruck einer kollektiven Sehnsucht nach Stetigkeit und familiärer Nestwärme, welche die moderne Gesellschaft zu verlieren drohe. Sein Essay-Band bietet eine unterhaltsame, sozialpsychologische Kurzanalyse unserer Zeit und ihres ambivalenten Verhältnisses zum Adel.

Kennen Sie schon …

Gehirn&Geist – Verbrechen: Die Psychologie des Bösen

Warum faszinieren wahre Verbrechen? True Crime ist ein Spiegel unserer psychologischen Neugier: Was macht Menschen zu Tätern – und wie gelingt es Ermittlern, die Wahrheit ans Licht zu bringen? In dieser Ausgabe geht es um die Kräfte, die Menschen in den Abgrund treiben oder zurückholen. Wir zeigen, warum Rache selten Frieden bringt, wie gefährliche Häftlinge in Sicherungsverwahrung leben, was das Stockholm-Syndrom über Überlebensstrategien verrät und mehr.

Spektrum - Die Woche – Der Wahnsinn der anderen

Die Psychiatrie schreibt in der Kolonialzeit ein dunkles Kapitel: Durch gefährliche Behandlungsmethoden und Therapien wurde die einheimische Bevölkerung kontrolliert und ihrer Selbst entfremdet. Was dort geschehen ist und mehr – etwa, ob Veganern Aminosäuren fehlen – erzählt »Spektrum - Die Woche«.

Spektrum Kompakt – Reisen - Damals und heute

Seit jeher reisen Menschen und suchen dabei Erholung, Abwechslung, sich selbst oder einen neuen Wohnort. Auf dem Weg droht so manches Ungemach, das hat sich seit der Postkutschenzeit nicht verändert: Heute sind es Flugturbulenzen oder Bahnverspätungen. Manche Ursache dafür liegt weit zurück.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.