»Wer wir waren«: Zu Besuch bei sehr entfernten Verwandten
Die meisten Menschen kennen ihre eigenen Großeltern, eventuell auch noch ihre Urgroßeltern. Darüber hinaus wissen die wenigsten etwas über ihren Familienstammbaum. Sollte man einer Adelsfamilie angehören oder sehr seltene genetische Merkmale aufweisen, wird möglicherweise noch weiter geforscht, aber spätestens im Hochmittelalter enden auch solche Spurensuchen.
Je größer der zeitliche Abstand zu unseren Vorfahren, desto fremder erscheinen sie uns in der Regel. Das Leben eines römischen Legionärs ist uns aus archäologischen Fundstücken zumindest teilweise bekannt. Aber wie sieht es mit einem Neandertaler aus, der 150 000 Jahre vor unserer Zeit gelebt hat? Oder gar dem Australopithecus, dem ersten auf zwei Beinen gehenden »Homininen« (so nennt man die Untergruppe der Hominiden, zu der nur wir, der Homo sapiens, sowie unsere ausgestorbenen Vorfahren gehören, aber zum Beispiel nicht Schimpansen)?
Guido Barbujani, Populationsgenetiker, Evolutionsbiologe und Professor an der Universität Ferrara in Italien, widmet sein Buch der scheinbar unlösbaren Aufgabe, uns unsere entferntesten Ahnen näherzubringen. Der Autor versucht, ähnlich wie ein Genealoge, eine Linie durch die Zeit zu ziehen. Hierbei stellt er unsere Vorfahren und deren Weggefährten aus den jeweiligen Epochen vor – und zwar nicht nur anhand von Zahlen.
Er zeigt sie uns als echte Individuen, die ein Leben und Gefühle hatten. Hierzu wählt er eine sehr ungewöhnliche, aber passende Form: Porträts. 15 von ihnen enthält das Buch, das zudem eine Einleitung und ein Glossar sowie diverse Literatur- und Bildnachweise umfasst. Das Wort »Porträt« ist hier unter anderem bildlich zu verstehen, denn jedes Kapitel beginnt mit einer Rekonstruktion dessen, wie der oder die Porträtierte ausgesehen haben könnte.
Abends bei Lucy
Anschließend erzählt der Autor Anekdoten aus dem Leben des jeweiligen Individuums, die auf Informationen aus glaubhaften Rekonstruktionen fußen. Bruchstellen an den Knochen des Australopithecus Lucy, lange als fehlendes Glied zwischen Affe und Mensch gehandelt, verraten etwa, dass sie von einem Baum gestürzt sein muss. Es gilt seither als wahrscheinlich, dass sie wie ihre Artgenossen tagsüber in der Steppe lebte – wo der zweibeinige Gang eine weitere Sicht erlaubte –, sich gegen Abend zum Schlafen aber in die Sicherheit der Bäume zurückzog.
Immer wieder flicht der Evolutionsbiologe bestechend detaillierte Berichte von der Entdeckung der Funde ein. Der Autor ist in der Anthropologie bestens vernetzt und war bei einigen der genannten Funde selbst vor Ort. So werden nach und nach die bekanntesten Hominini besprochen und, wenn man so will, zum Leben erweckt.
Fast beiläufig beantwortet Barbujani zudem einige hochinteressante Fragen, etwa die nach der Hautfarbe der ersten Menschen, die sich von einem gemeinsamen Vorfahren mit den Affen abgespaltet haben. Diese waren dem aktuellen Stand nach weiß, da die Haut aufgrund des zu dieser Zeit noch dichten Fells keine Melanierung als Schutz vor der Sonne benötigte. Die ersten Europäer dagegen dürften dunkelhäutig gewesen sein, da sie bekanntermaßen zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt aus Afrika nach Norden gewandert sind.
Das Werk bündelt auf diese Weise verschiedenste Informationen aus Feldern wie Biologie oder Paläoanthropologie und erklärt zudem verständlich, wie modernste Technik die Arbeit in diesen Disziplinen verändert – etwa beim Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Populationsgenetik. Der fesselnde Stil und die einfache Sprache tun ihr Übriges, sodass sowohl die Vermutungen über das Leben unserer Vorfahren als auch die Entdeckungsgeschichten von Fossilien sehr lebensnah und nachvollziehbar werden. Die Wahl des Porträts als Stilmittel überzeugt – mit seiner Hilfe lässt »Wer wir waren« Zeiten lebendig werden, die so weit entfernt sind, dass man kaum fassen kann, wie viel wir heute über sie wissen.
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