»Wie Technik Geschichte macht«: Fluch und Segen der Innovation
Eine Welt ohne Technik ist kaum mehr vorstellbar, so sehr bestimmt sie unseren Alltag. Gerade in den letzten Jahrhunderten gab es mehr revolutionäre Erfindungen als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Und sie stellten das Leben ihrer Zeitgenossen mal mehr, mal weniger auf den Kopf. Ich zum Beispiel schreibe diesen Text auf einem Laptop und kann dafür im Internet recherchieren, was noch vor wenigen Jahrzehnten völlig undenkbar gewesen wäre. Der Historiker und Augenarzt Ronald D. Gerste nimmt den Leser mit auf einen informativen Ritt durch die Geschichte dieser Revolutionen, wobei er neben technischen Details auch viele Informationen über die Menschen hinter den Erfindungen einflicht.
So erfahren wir, dass im Jahr 1450 die geplanten Exemplare der Bibel schon reserviert und verkauft waren, noch bevor Johannes Gutenberg auch nur eine Seite gedruckt hatte. Ein mindestens ebenso großes PR-Genie muss Thomas Alva Edison gewesen sein. Am Silvesterabend des Jahres 1879 lud er eine Schar VIP-Gäste in einen New Yorker Park in der Nähe seines Hauses ein und legte dort vor aller Augen ein paar Schalter um. Er hatte zuvor in seinem Haus, den Nachbarhäusern und auf der Straße ein paar Dutzend der von ihm entwickelten Glühbirnen angebracht, die mit einem Mal die Straße erhellten. – Das elektrische Licht machte das Leben nicht nur bequemer, sondern auch sicherer für Mensch und Tier. Unter anderem kamen im 19. Jahrhundert regelmäßig bei durch Gaslecks verursachten Explosionen in Theatern und Opernhäuser viele Menschen ums Leben. Und da man damals noch kein Öl aus dem Boden zutage förderte, nutzte man das Öl aus den Gehirnen von Pottwalen als Energieträger, was diese fast ausrottete.
Technik machte die Welt nicht nur sicherer, sondern oft auch demokratischer. Als ebenfalls im 19. Jahrhundert die Eisenbahn erfunden und durchgesetzt wurde – maßgeblich von George Stephenson und Friedrich List –, konnten sich auch Tagelöhner, für die ein Pferd unerschwinglich war, wenigstens die vierte Klasse leisten und kamen genau zur selben Zeit am Zielort an wie Könige und Politiker. Auch aus diesem Grund war der damalige britische Premierminister, der 1. Duke of Wellington, der Eisenbahn gegenüber skeptisch. Er konnte nicht akzeptieren, dass durch sie die Klassenunterschiede verschwammen.
Der Telegraf und eine persönliche Tragödie
Der amerikanische Bürgerkrieg gilt mit dem Einsatz von Eisenbahnen, U-Booten und der Telegrafie als erster moderner Krieg. Samuel F. B. Morse (1791–1872) war ein erfolgreicher Maler und gerade in Washington, um Politiker zu porträtieren, als ihm per Brief mitgeteilt wurde, dass seine Frau nach kurzer Krankheit plötzlich verstorben war. Als ihn der Brief erreichte, war seine Frau schon beerdigt. Das traf ihn tief, und er beschloss, sich von der Malerei ab- und der Technik zuzuwenden. Er erfand den Telegrafen, der mit Hilfe von elektrischem Strom Nachrichten über große Entfernungen senden konnte – wofür die Menschen damals sonst Feuer, Rauch oder Fahnen nutzten, wenn sie so etwas überhaupt taten. Durch die Telegrafie hatte sich das Warten auf eine Nachricht von Wochen auf Minuten verkürzt. Gerste betont, dass auch die Kriegsführung durch die veränderte Kommunikation demokratischer wurde. Bis dahin mussten die Militärs vor Ort im Zweifelsfall selbst und ohne Kenntnis der gesamten Lage folgenschwere Entscheidungen treffen. Und nicht wenige von ihnen hatten sich »selbstständig« gemacht, indem sie die eroberten Gebiete besetzt und sich statt ihres Königs als lokale Machthaber installiert hatten. Nun konnte der demokratisch gewählte Präsident Lincoln direkt mit den Soldaten an der Front kommunizieren und ihnen Befehle geben.
Die Grundlagenforschung für eine Innovation, die unseren Alltag vielleicht am nachhaltigsten verändert hat, stammt von Hedy Lamarr. Sie galt lange als schönste Frau der Welt – und war Wissenschaftlerin. Sie hat nicht nur mit siebzehn den ersten Orgasmus der Filmgeschichte gespielt, sie war auch eine hochintelligente Erfinderin und hat sich in Drehpausen mit physikalischen und chemischen Tüfteleien beschäftigt. Dass sie als Jüdin kurzzeitig mit einem millionenschweren österreichischen Waffenhändler verheiratet war, der später Hitler belieferte, ist nur eine der Absurditäten aus ihrem filmreifen Leben. Die Informationen über Torpedos, die sie bei Abendgesellschaften bei ihrem Ex-Mann aufgeschnappt hatte, inspirierten sie 1942, einen vom Feind nicht ortbaren Torpedo für die Marine ihrer neuen Heimat zu entwickeln, die USA. Zusammen mit dem Komponisten George Antheil meldete sie 1942 ein Funksteuerungssystem zum Patent an, das automatisiert die Frequenz ändert. Die US Navy lehnte dankend ab, weil ihr das Gerät zu groß war. Später wurde es verkleinert – und die Erfindung ist heute eine technologische Grundlage für Smartphone, GPS, WLAN und Bluetooth.
Außerdem widmet sich Gerste den Flugpionieren Otto Lilienthal, Wilbur und Orville Wright sowie Charles Lindbergh. Otto Lilienthal (1848–1896) hatte sich eine Welt mit Flugzeugen als Utopie ohne Grenzen und Kriege vorgestellt. Dass in vielerlei Hinsicht das Gegenteil eintrat, musste er nicht mehr erleben. Die Fernsehpioniere Manfred von Ardenne – aus reicher deutscher Adelsfamilie – und Philo T. Farnsworth – aus einer ärmlichen Mormonenfamilie in Idaho – werden effektvoll einander gegenübergestellt. Im Kapitel über J. Robert Oppenheimer und Lise Meitner lernen wir, dass die Bombe für Nagasaki »Fat Man« und die für Hiroshima »Little Boy« genannt wurden und dass Kyoto, das religiöse Zentrum Japans mit Hunderten Tempeln, nur auf Drängen des kulturell interessierten US-Kriegsmisters verschont wurde.
Gerste macht die Ambivalenz erlebbar, die praktisch jeden technischen Fortschritt kennzeichnet. Und er hat die zwölf Kapitel seines Buchs in einem angenehm flüssigen, anekdotenreichen Stil geschrieben, so dass nicht nur Techniknerds von dieser Lektüre profitieren.
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