Direkt zum Inhalt

»Wir Wale«: Die Welt aus Sicht der Wale

Was geht in Walen und Delfinen vor? Der Walforscher Fabian Ritter wagt einen faszinierenden Perspektivwechsel und beschreibt die Welt aus den Augen der Meeressäuger.

Als durchaus poetisch kann man wohl Teile des Buchs des Meeresbiologen Fabian Ritter bezeichnen: »Wir Wale verleihen dem Meer Ausdruck und Klang. Der Ozean hallt von uns wider – von einem Ende bis zum anderen. Ein Gewebe aus Rufen und Liedern, so weit wie der Ozean selbst. Beseelte Melodien der Harmonie.« Selbstverständlich beherrschen die Meeressäuger diese Art von Poesie, die ihnen der Autor in den Mund legt, nicht. Das Stilmittel ist aber zweifelsohne geeignet, um den Leserinnen und Lesern näherzubringen, was die Tiere fühlen und denken, was sie stört und ängstigt. »Im Grunde haben die Wale und Delfine dieses Buch geschrieben«, stellt Ritter gleich im ersten Satz klar.

»Wir Wale« ist in vier übergeordnete Kapitel gegliedert, die sich dem Körper, dem Geist und der Seele der Tiere sowie schließlich ihrer Beziehung zum Menschen widmen. Die Meeressäuger berichten etwa, wie sie sich in der Unterwasserwelt fortbewegen, wie sie sehen, hören und singen. Wie sie lernen, jagen, spielen und Sex haben. Sie berichten über ihre sozialen Gemeinschaften, ihre unterschiedlichen Charaktere und Vorlieben. Man erfährt, weshalb eine bestimmte Walart, die Orcas, die Ruder von Segelbooten rammen – nämlich aus Neugierde und Spieltrieb – und was es mit diesen intelligenten Tieren macht, wenn man sie in Aquarien einsperrt. Unterbrochen wird der Text regelmäßig von der »Biografie« eines Grönlandwals, in der er sein mehr als 200 Jahre währendes Leben rekapituliert: seine Jugend, seine Gesänge, seine Wanderungen und die Jagd auf ihn – durch Orcas und durch Menschen. Zahlreiche Fotografien des Autors runden die beiden Erzählstränge ab.

Wie klingt es also, wenn die Meeressäuger zum Beispiel ihre Gefühle beschreiben? »Empathie, Freude, Liebe, Angst, Trauer: Wir haben komplexe Gemütsbewegungen vielleicht nicht erfunden, aber sie durchdringen uns. […] Freude lässt uns das Leben genießen. Ängste machen uns wachsam. Trauer verbindet die Mitglieder einer Gemeinschaft miteinander.« Oder wenn sie Einblicke in ihre Kommunikation geben? »Die akustische Welt hält uns nicht nur zusammen, sie gibt uns auch Identität. Jede Wal- und Delfinart hat eigene Laute, verwendet und kombiniert bestimmte Frequenzen, besitzt einen eigenen Kommunikationsrhythmus. […] Natürlich erkennen wir uns untereinander auf Anhieb an unserer jeweiligen Tonlage. Die Nuancen erlauben sogar die Unterscheidung spezifischer Populationen oder Gruppen.«

Ein Gespür für Wale

Fabian Ritter forscht seit mehr als drei Jahrzehnten über Wale und Delfine und setzt sich für den Schutz dieser Tiere und ihrer Lebensräume ein. Sein umfangreiches Wissen ist in jeder Zeile des Buchs zu spüren. Alles, was er den Walen und Delfinen an Eigenschaften oder Verhaltensweisen zuschreibt, belegt er durch wissenschaftliche Quellen. Gleichwohl könnte man kritisieren, dass manchen Formulierungen doch etwas zu viel Pathos innewohnt, dass die Erzählweise die Tiere vermenschlicht. Doch Literatur ist immer auch Kunst – und unter dieser Prämisse sollte man dieses Werk bewerten.

Dem Autor geht es nicht darum, das Erleben eines Wals völlig realitätsgetreu und in jedem Detail mit wissenschaftlicher Präzision abzubilden. Er sieht sich als »Vermittler zwischen der aquatisch-ozeanischen Welt und der terrestrischen«. Das, was er niedergeschrieben habe, hätten ihm die Tiere über viele Jahre erzählt. Freilich können Menschen die Walgesänge nicht verstehen. Sie können die Echoortung nicht fühlen. Und selbstverständlich können sie niemals denken wie ein Wal. Das weiß Ritter. Dennoch können wir uns darum bemühen, ein Gefühl dafür zu bekommen, wer und was diese Lebewesen sind, können versuchen, uns der Realität der Tiere so weit wie möglich anzunähern. Und viel näher als mit diesem Buch werden wir es momentan wohl kaum schaffen.

»Wir Wale« lässt den Leser staunen, lachen und vielleicht sogar die eine oder andere Träne verdrücken. Man fühlt mit den beeindruckenden Geschöpfen, die schon seit rund 50 Millionen Jahren im Einklang mit ihrer natürlichen Umwelt leben – etwas, das dem Menschen schon lange abhandengekommen ist. Aber folgt man Fabian Ritter, geben die Wale die Hoffnung nicht auf: »Der dunkelste Punkt der Leidenszeit ist überschritten. Wir sehen das Licht am Horizont. Aus Stille wird Neues geboren. Nun rufen und singen wir ein neues Zeitalter herbei.«

Kennen Sie schon …

Spektrum der Wissenschaft – Dunkle Energie - ein Trugbild?

Eine geheimnisvolle Kraft treibt alles im Universum immer schneller auseinander. Doch niemand weiß, was hinter dieser Dunklen Energie steckt, und neue Messdaten mehren grundsätzliche Zweifel am kosmologischen Standardmodell. Bieten alternative Ansätze eine Erklärung? Außerdem: Neue Verfahren erlauben es, Immunzellen direkt in unserem Körper so zu verändern, dass sie Krebszellen attackieren – bisher mussten sie Patienten dafür entnommen und wieder zurückgeführt werden. Quantentheorie und allgemeine Relativitätstheorie beruhen auf unvereinbaren Weltbildern. Neue Experimente an der Schnittstelle zwischen Quantenphänomenen und Gravitation sollen helfen, diesen Widerspruch zu überwinden. In der Pangenomik wird das Erbgut zahlreicher Individuen verglichen – mit weitreichenden Folgen für Forschung und Züchtung von Nutzpflanzen. Und wie immer in der Dezemberausgabe berichten wir vertieft über die Nobelpreise des Jahres für Physiologie oder Medizin, Physik und Chemie, ergänzt durch einen kritischen Blick darauf, welche Verantwortung mit großen Entdeckungen einhergeht.

Spektrum edition – Sprache

In dieser »edition« behandeln wir das Thema Sprache von den Wurzeln bis hin zur Entschlüsselung von tierischer Kommunikation mit KI. Wie klingt eine Sprache, die fast niemand kennt? Denken Menschen anders, wenn sie anders sprechen? Und was verrät der Klang einer Sprache über unsere Wahrnehmung?

Spektrum - Die Woche – (Über)leben mit ME/CFS

ME/CFS verändert Leben radikal. Die Ärztin Natalie Grams schildert in der Titelgeschichte eindrücklich ihren Alltag mit der Krankheit. Außerdem in »Die Woche«: Ein Laser aus Neutrinos, Satellit soll vor Sonnenstürmen warnen und mehr.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.