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Wessen Stimme darf man anhören?

Die Debatte darum, wen man sich äußern lässt und ab wann man die wissenschaftliche Freiheit beschneidet, ist aktueller denn je.

»Schließlich ist die Freiheit der Wissenschaft ein Ideal, welches sich erst im Rahmen einer institutionalisierten Praxis konkretisiert und bewährt«, so die Philosophieprofessorin Elif Özmen (Gießen) in dem von ihr herausgegebenen Band »Wissenschaftsfreiheit im Konflikt. Grundlagen, Herausforderungen und Grenzen«. In neun Beiträgen diskutieren Fachleute, vornehmlich aus der Philosophie, aber auch aus der Psychologie und den Rechtswissenschaften, ein aktuelles und brisantes Thema: die Anfechtungen, gegen die sich Wissenschaft wehren muss.

Ein Grundrecht seit 1949

In dem einleitenden Aufsatz ordnet der Jurist Thomas Gutmann (Münster) Wissenschaftsfreiheit und die Garantien des Staats verfassungsrechtlich ein. Nach Urteilen des Bundesverfassungsgerichts von 1973 und 1994 sichert sie jedem wissenschaftlich Tätigen die »Freiheit von staatlicher Beschränkung und vermittelt Schutz vor staatlichen Einwirkungen auf den Prozess der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse«. Konstitutiv für Wissenschaft sei der »Wahrheitsbezug«. Erst seit 1949 gilt die Freiheit der Wissenschaft als ein Grundrecht in Deutschland.

Wahrheitsbezug kommt in den folgenden Beiträgen aber nicht vor. Sie handeln vom Epistemischen, einem aus der griechischen Philosophie abgeleiteten Synonym für Erkenntnisgewinn. Es fällt auf, dass die Texte stets um die gleichen Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit kreisen. So geht es mal um den Versuch einer islamischen Minderheit, die »Kopftuchtagung« in Frankfurt zu verhindern, dann um Kontroversen, welche Sprecher man einladen darf, diskutiert an Beispielen wie Peter Singer, Thilo Sarrazin oder Marc de Jong.

Elif Özmen plädiert für »epistemische Offenheit«, beschränkt sie aber auf Personen, die innerhalb der Wissenschaft arbeiten. »Für Nicht-Wissenschaftler*innen gibt es (…) andere und weit mehr Möglichkeiten der Grenzziehung, die allerdings von Fall zu Fall bestimmt und kommuniziert werden müssen (…) insbesondere bei Positionen und Provokationen, die dem akademischen Geist und der freiheitlich-liberalen Grundordnung nicht gerecht werden.« Anders argumentiert Jan F. Müller, der einen »Cordon Sanitaire« um die Wissenschaft ziehen möchte. Es sei wichtig zu signalisieren, »dass innerhalb der Hallen der Universität das Primat des Erkenntnisfortschritts gilt und dass politische Erwägungen im Ringen um Erkenntnis keine Rolle spielen«.

Versöhnlicher stellt sich Sabine Döring (Tübingen) auf. Für sie krankt der Diskurs daran, dass die Kontrahenten die zwei Begriffe von Meinungsfreiheit nicht sauber trennten, die »isegoria als der gleichen Freiheit aller, an der Debatte teilzunehmen« und die »parrhesia als die Freiheit zu äußern, was, wann und zu wem man mag, ohne Sanktionen fürchten zu müssen«. Sie verurteilt dabei die Ausladung Singers, da sie nicht aus epistemischen, sondern aus sozialen, politischen und moralischen Gründen erfolgt sei. Dagegen wendet sie sich gegen Einladungen an Sarrazin, weil dieser »ohne Analyse dichte Begriffe« benutze, die »Evaluation und Beschreibung unauflöslich miteinander verweben«, um rechtspopulistische Thesen zu verbreiten.

Romy Jasper und Geert Keil (HU Berlin) suchen nach »philosophischen Diskurstugenden« für Ein- oder Ausladungen. »Teilnehmen können nur Personen, die sich auf die Minimalbedingungen der intellektuellen Redlichkeit verpflichten.« Drei Tugenden nennen sie: beim Punkt bleiben, nicht bei Gegenargumenten dem Thema ausweichen, wohlwollend das Gesagte interpretieren und Gegengründe in Betracht ziehen.

Unter den Autoren herrscht aber auch Konsens: Wissenschaft sucht Wahrheit. Dabei hätte es den Band gut ergänzt, diese Prämisse zur Diskussion zu stellen. Im bunten Strauß der anerkannten Disziplinen gibt es solche, bei denen sich bezweifeln lässt, ob sie Wahrheit suchen. Das gilt für den philosophischen radikalen Konstruktivismus, der den Wahrheitsbegriff in das Subjekt verlagert und Intersubjektivität aufgibt. Zudem stellt sich die Frage, welche Wahrheit etwa die Debatte in der Linguistik über das generische Maskulinum anstrebt, wenn Interessengruppen und Aktivisten ihre Ansicht durchzusetzen suchen.

Zwischen dem Wahrheitsbegriff der Naturwissenschaften, der nur vordergründig »hart« ist, und der eher auf Plausibilität zielenden Bezeichnung in den Geisteswissenschaften klafft eine breite Lücke. Diese ist zwar nicht zu schließen, dennoch sollte man sie analytisch diskutieren. Das gilt ebenso für Geldflüsse aus Staat und Wirtschaft in die Universitäten. Insgesamt liefert der Band aber eine gute Grundlage für die aktuelle Diskussion.

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