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»Wo die Zukunft der Raumfahrt beginnt«: Gendernd auf den Mars

Warum das Gendern für Analog-Astronauten so wichtig sein soll, wie es dieses Buch nimmt, erschließt sich nicht. Dass der Mars große Herausforderungen bereithält, vermittelt Anika Mehlis aber lebendig.

Gerade als ich das Buch »Wo die Zukunft der Raumfahrt beginnt« für die Rezension zur Hand nehmen wollte, schwirrte eine Nachricht des »Österreichischen Weltraum Forums« (ÖWF) in mein E-Mail-Postfach. Das ÖWF – gleichzeitig Veranstalter der von Anika Mehlis geschilderten Mars-Analogmissionen – sucht aktuell »Analog-Astronaut*innen«, und zwar »Menschen zwischen 25 und 45 Jahren mit Erfahrung in einem technologischen, ingenieurwissenschaftlichen oder naturwissenschaftlichen Bereich oder mit Pilot*innenerfahrung.«

Stilistisch präsentiert sich das Buch genauso wie diese E-Mail: Substantive werden in großer Dichte gegendert (im Buch mit Doppelpunkten), zusätzlich ist der Text mit substantivierten Partizipialformen gespickt (»Lehrende«, »Forschende« et cetera). Gelegentlich liest man Satzkonstrukte wie »Ein:e Pilot:in wird unterstützt durch eine:n Co-Pilot:in sowie eine:n wissenschaftliche:n Begleiter:in« (S. 66) oder »Im Flight Control Room koordiniert der:die jeweils diensthabende Flugdirektor:in (FD) wie eine Orchesterdirigent:in das Flight Control Team (FTC)« (S. 96). Deutsch war in der Schulzeit eines meiner Lieblingsfächer, ich habe freiwillig klassische Gedichte auswendig gelernt und mit Freude den Sinn des generischen Maskulinums erforscht. Für mich war die Lektüre dieses Buchs daher sprachlich wie eine lange Bergwanderung mit Split in den Schuhen. Aber vielleicht war das auch schon die erste Resilienzprobe innerhalb der »Kandidat:innenauswahl« – denn Resilienz ist, das erfahre ich schon ganz vorn im Buch, eine der Haupteigenschaften, die ein Astronaut und somit auch ein Analog-Astronaut mitbringen muss. Wenn dem so ist, wäre ich bereits hier krachend durchgefallen.

Die Auswahltests, die Anforderungen und die Trainingseinheiten der ÖWF-Analog-Astronauten, die Anika Mehlis beschreibt, erscheinen mir persönlich sehr übertrieben – liegen sie doch auf ähnlichem Niveau wie die Auswahlverfahren für »richtige« Astronauten (und viel härter kann es angehende Doppelnullagenten beim britischen Auslandsgeheimdienst auch nicht treffen).

Raumanzüge und ihr Gewicht 

Manches leuchtet mir partout nicht ein. Nehmen wir als Beispiel die Raumanzüge. Man geht hier als Baseline von der EMU (»Extravehicular Mobility Unit«) der ISS aus. Diese Einheit wiegt auf der Erde etwa drei Zentner. Die EMU ist aber ein bemanntes Mini-Raumschiff inklusive eigenem Antrieb, bei der die Masse keine große Rolle spielt. Ausgehend von diesem Gewicht nimmt nun der ÖWF für seine »Außenbordeinsätze« an, dass ein Raumanzugsimulator etwa 50 Kilo wiegen muss – also ein Drittel des EMU-Gewichtes, denn auf dem Mars ist die Schwerkraft ja nur ein Drittel so groß wie auf der Erde.

Die EMU als Basis anzunehmen, erscheint mir jedoch absurd. Schon die Apollo-Mondanzüge wogen auf der Erde weniger als 90 Kilogramm, die neu entwickelten US-Mondanzüge der Firma »Axiom Space« werden etwa 50 irdische Kilos wiegen. Würde man sie auf dem Mars einsetzen, wären das nur noch rund 17 Kilogramm. Ähnlich ist es übrigens beim chinesischen »Yuè Xíng«-Mondanzug; zu ihm gibt es noch keine Gewichtsangaben, aber immerhin schon die Information, dass er ganz erheblich weniger wiegen soll als der 120 Kilogramm schwere »Feitan«-Anzug, den die Chinesen derzeit für Außenbordmanöver auf der »Tiangong«-Raumstation einsetzen.

Auch über den Sinn des Einbaus künstlicher mechanischer Belastungselemente im ÖWF-Versuchsraumanzug und seiner ganz offensichtlich viel zu schwachen Kühlung (die Analog-Astronauten schienen mehrfach dem Hitzschlag nahe zu sein) ließe sich trefflich streiten. Sowohl in den USA als auch in China legt man in diesem Bereich vor allem Wert auf absoluten Leichtbau, Kompaktheit, maximale Leichtgängigkeit und ergonomische Anpassung. Dass die Anzüge perfekt temperaturgeregelt sind, ist eine Selbstverständlichkeit.

Letztlich ist dieser Stoff selbst für Hardcore-Raumfahrtfans nur mäßig spannend. Es geht hier um die gefühlt (womöglich auch tatsächlich) tausendste Marssimulation. Aktuell läuft beispielsweise die MDRS-Crew-323-Simulation der »Mars Society«, die Zahl »323« ist hier eine fortlaufende Zählnummer. Die beiden ÖWF-Simulationen, an denen Anika Mehlis beteiligt war und die sie hier Tag für Tag beschreibt, tragen die Bezeichnung »AMADEE-20« (durchgeführt in Israel) und »AMADEE-24« (durchgeführt in Armenien). Hier sind die beiden Nummern jeweils Jahreszahlen. Insgesamt hat das ÖWF seit 2006 15 Mars-Analogsimulationen durchgeführt.

Trotz des ganzen Aufwands erinnert das am Ende ein wenig an eine Mischung aus Pfadfinderlager und Outdoor-Simulationsspiel. Alles schön und nett, aber viele Meilen weit entfernt von der Nachbildung eines »Ernstfalls«. Wenn bei AMADEE einmal das WLAN nicht funktioniert, dann begibt sich der Analog-Astronaut einfach an die Stelle zurück, an der er wieder Empfang hat. Ob das auf dem Mars so einfach möglich ist?

Anika Mehlis beschreibt sehr detailliert Ereignisse, Fakten und Ausbildungselemente. Sie gibt aber auch immer wieder ihren Gefühlen Ausdruck, und das ist dann fast schon der interessantere Teil ihres Buchs, denn so kann ich nachvollziehen und abschätzen, wie ich in ähnlichen Situationen reagieren würde. Und da liegt Frau Mehlis dann doch deutlich vor mir; verglichen mit ihr komme ich mir in so mancher Szene vor wie ein dotterweiches Frühstücksei.

Apropos Härte: Wer das Hardcore-Gendern ausblenden kann, wer nicht nach Spannung giert, wer einfach wissen will, wie es bei so einer Marssimulationen zugeht, dem ist dieses Buch zu empfehlen. Die Protagonistin ist sympathisch, man kann sich gut in ihre Rolle, ihre Sorgen, Ängste und Nöte einfühlen. Ihr Schreibstil wäre im Prinzip gut, wäre da nicht – naja, das hatten wir schon. Als Vademecum zukünftiger (ÖWF) Analog-Astronauten erfüllt das Buch aber vermutlich auch in dieser Hinsicht seinen Zweck.

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