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Vier Denker durcheinander

Zwischen den Weltkriegen ging es philosophisch ungemein rege zu. Dagegen gleicht die Gegenwart einer intellektuellen Wüste.

Warum nicht eine populäre Musikgeschichte schreiben über die Beatles, die Rolling Stones, Bob Dylan und Elvis Presley in den 1960er Jahren? Da entstünde ein buntes Potpourri aus Pop, Folk und Rock 'n' Roll während eines bewegten Jahrzehnts. Analog geht Philosophie-Publizist Eilenberger vor. Er wählt vier deutschsprachige Denker und erzählt, wie sie in den 1920er Jahren gewirkt haben. Das Resultat ist eine poppige Geschichte über eine besonders lebhafte Phase der modernen Philosophie.

Wen haben wir da? Ludwig Wittgenstein (1889-1951) publizierte 1921 mit seinem »Tractatus logico-philosophicus« ein Gründungsdokument des Logischen Positivismus. Martin Heidegger (1889-1976) veröffentlichte 1927 »Sein und Zeit«", einen Basistext der Existenzphilosophie, die um Begriffe wie Angst, Tod und Sorge kreist. Ernst Cassirer (1874-1945) schrieb in den 1920er Jahren an seiner »Philosophie der symbolischen Formen«, einer umfassenden Kulturtheorie. Und schließlich der vielseitige Publizist Walter Benjamin (1892-1940), dessen Schriften erst postum ihre ganze Wirkung entfalten konnten, weil der deutsch-jüdische Philosoph, von den Nazis ins Exil getrieben, auf der Flucht vor ihnen Selbstmord beging.

Wahrlich eine wilde Mischung! Über jeden dieser höchst unterschiedlichen Denker gibt es bereits Biografien und umfangreiche Sekundärliteratur, und Eilenberger verwendet einen (allzu) großen Teil seiner Darstellung darauf, zu begründen, warum er die vier in ein einziges Buch zwingt. Die Zusammenschau hat den Nachteil, dass der Autor fortwährend Gemeinsamkeiten behauptet, statt die tatsächlichen Unterschiede herauszuarbeiten.

Gemeinsamkeiten, wo keine sind

So wird Wittgenstein unter der Hand zum existenzphilosophischen Bruder Heideggers, obwohl die beiden völlig konträre Auffassungen zur naturwissenschaftlich-technisch geprägten Moderne hatten. Heidegger konstatierte eine verbreitete Seinsvergessenheit und Uneigentlichkeit, aus denen angeblich nur die Rückbesinnung auf die Vorsokratiker befreien könne. Dieses Ursprungsdenken verführte den Philosophen in den 1930er Jahren sogar dazu, Adolf Hitler als geistigen Führer anzuhimmeln. Wittgenstein hingegen fand die größte Resonanz in England und Amerika, wo sich die aus Österreich und Deutschland vertriebene analytische Philosophie den Grundlagenproblemen von moderner Mathematik und Naturwissenschaft widmen konnte.

Auch Benjamin und Cassirer haben miteinander und den beiden anderen nur gemein, dass sie zur selben Zeit lebten. Cassirer berief sich als Philosophieprofessor der alten Schule auf Kant und Goethe, während sich Benjamin als notgedrungen freier Schriftsteller dem revolutionären Marxismus zuwandte. Eilenberger versäumt es, Cassirers durchaus originelle Betonung von Form und Struktur herauszuarbeiten, die ihn als Vorläufer des französischen Strukturalismus und des in der heutigen Wissenschaftstheorie prominenten Strukturenrealismus auszeichnen könnte.

Hier nur ein Beispiel für die Satzungeheuer, die das Zusammenzwingen unterschiedlicher Denker gebiert. Bei Eilenberger ist gerade von Heidegger die Rede: »Ähnlich der freudschen Psychoanalyse oder auch der wittgensteinschen Philosophie des ›Tractatus‹ geht das Ziel einer möglichst präzisen und strukturfreilegenden Beschreibung der jeweils eigenen Situation (im weitesten Sinne) mit dem Ziel einer grundlegenden, selbstbestimmten Transformation des eigenen Lebensvollzugs einher.« Alles klar?

Streicheln mit Samthandschuhen

Das Buch gipfelt in einem bemühten Finale furioso. Wie ein atemloser Sportreporter beschreibt Eilenberger das historische Treffen von Heidegger und Cassirer bei einer Philosophentagung in Davos 1929 als heftigen Schlagabtausch. Dabei geben die zitierten Argumente wenig Konfliktstoff her. Es geht um das »Unendliche« bei Kant und das »Endliche« bei Heidegger, und der vermeintliche Boxkampf gleicht einem Streicheln mit Samthandschuhen. Eher trat damals ein philosophischer Generationenkonflikt zu Tage: der Newcomer Heidegger gegen den bestallten Professor Cassirer. So gesehen ähnelte das Philosophentreffen von Davos dem aufmüpfigen Auftritt des Literatur-Beatles Peter Handke bei der Tagung der Gruppe 47 in Princeton 1966.

Eilenberger zeigt jedenfalls, wie ungemein rege es in den 1920er Jahren geistig zuging. Dagegen gleicht die Gegenwart einer intellektuellen Wüste. Falls das Buch seine Leser dazu anregt, sich mit einem oder mehreren der vier Denker näher zu beschäftigen, hat es seinen Zweck erfüllt.

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