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»Zu jung? Zu alt? Egal!«: Ohne Optimismus kein Wandel

Wie können wir den demografischen Wandel konstruktiv gestalten? Clara Vuillemin und Peter Lau präsentieren vielversprechende Ansätze.

»In den nächsten zehn Jahren werden ungefähr 8 Millionen Menschen in Deutschland ihren 20. Geburtstag feiern – und knapp 13 Millionen ihren 65. Der aktuelle Fachkräftemangel ist bloß ein Symptom davon«; und »in Deutschland [sterben] seit 1972 jedes Jahr mehr Menschen als geboren werden. Für Bevölkerungswachstum hat seitdem allein die Einwanderung gesorgt.« In Sätzen wie diesen machen Clara Vuillemin und Peter Lau spürbar, was »demografischer Wandel« konkret bedeutet.

Man könnte kommentieren: »Nichts Neues, das wissen wir schon lange.« Dennoch ist dieses Buch eine lohnende und nachdenklich machende Lektüre – werden doch die wichtigsten Informationen zum Thema in kompakter Form auf weniger als 120 Seiten leicht lesbar präsentiert. Damit wird das Autorenduo seinem Anspruch gerecht: »Dieses Buch ist für Menschen in einem schwierigen Alter. Also für alle.«

Gleichzeitig scheint unsere Gesellschaft nicht in der Lage zu sein, mit der demografischen Entwicklung konstruktiv umzugehen. Stattdessen begegnet man immer wieder Altersdiskriminierung – und zwar nicht nur gegenüber den »Alten«, auch junge Menschen sind davon betroffen, so zum Beispiel, wenn der GenZ Faulheit und Anspruchsdenken zugeschrieben wird. Um das Ziel, »wie wir persönlich, in Unternehmen und als Gesellschaft einen besseren Umgang mit verschiedenen Lebensaltern finden können«, kreist dieses Buch. Dabei klafft zwischen Clara Vuillemin (33) und Peter Lau (64) selbst ein großer Altersunterschied. Vuillemin ist Co‑Gründerin des digitalen Magazins »Republik«, Lau Redakteur und Autor beim Monatsmagazin »brand eins«, in dessen Verlag das Buch erschienen ist.

Lau und Vuillemin zeigen überzeugend: Alle Menschen haben in etwa gleichartige Probleme, zum Beispiel körperliche, mentale, berufliche oder motivationale – aber aus unterschiedlichen Gründen. Entscheidend sei es zu begreifen, dass Altern nicht Verfall bedeute, sondern Veränderung. Die Plastizität des Gehirns ermögliche auch im hohen Alter noch Lernen, man lerne in den verschiedenen Lebensaltern einfach anderes. Daher gelte es, Arbeitswelt, Freizeitverhalten, Familienleben et cetera strukturell so zu verändern, dass sie dieser Tatsache gerecht werden. Die Autoren plädieren daher für mehr Altersdiversität in allen Gruppen und Lebensphasen, da jedes Alter das eigene Wissen und die eigene Erfahrung einbringen könne.

Der Fluch starrer Systeme

Bislang werden die Lebensphasen in der Regel nacheinander gestaltet: Ausbildung (Jugend) – Arbeit (Erwachsensein) – Freizeit (Rente). Aber die Welt hat sich in den letzten Dekaden deutlich verändert, die Menschen leben länger und bleiben im Alter auch länger gesund. Dadurch haben sich auch die Lernphasen verlängert – und das gilt erst recht für die Zeit der Rente. Mit Blick auf die zunehmende Zahl der 100-Jährigen stellt sich dringender denn je die soziale Frage, wie man die vielen arbeitswilligen und fitten Älteren ins Berufsleben integriert und so die Rente langfristig bezahlbar macht. Modelle und Visionen gibt es zuhauf, aber vor strukturellen Veränderungen scheuen sich nicht nur Verantwortliche in der Politik, sondern auch Firmen, Institutionen oder Personalabteilungen, denen manchmal schon die 40-Jährigen als »zu alt« erscheinen.

Auf der Grundlage dieser Analyse plädiert das Autorenduo für die Umsetzung dessen, was die US-amerikanische Soziologin Matilda White Riley in ihren Forschungen zur altersintegrativen Gesellschaft bereits 1994 im Konzept der »Idealtypen der Sozialstruktur« vorgeschlagen hat: diese drei Lebensbereiche als »Zopf« miteinander zu verflechten. Das würde zwar eine andere Finanzierung des lebensbegleitenden Lernens erfordern, zugleich aber auch die Lebensphasen von Familien entlasten, neue Arbeitsformen ermöglichen und die unterschiedlichen Altersgruppen zusammenbringen. Eine solche Umgestaltung könne die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit auf 20 bis 30 Stunden verringern, dafür aber das Arbeiten innerhalb der Lebenszeit verlängern – durch eine flexiblere Arbeitsaufteilung auf die unterschiedlichen Lebensphasen. So lese man immer häufiger von Menschen, die mit 50 oder später ein neues Leben angefangen haben. Noch seien dies Einzelne – aber müssen sie Sonderlinge bleiben? »Wer Vielfalt will, braucht sie auch bei den Lösungen«, schreiben Vuillemin und Lau.

Das Buch ist voller Optimismus und plädiert, wie es im Untertitel heißt, »Für eine Arbeitswelt ohne Altersgrenzen«. Das Autorenduo beklagt, dass vieles aus diesem Konzept noch nicht umsetzbar sei, »weil es von Regeln und Gesetzen verhindert wird«. Wer nimmt mit 50 schon eine neue Ausbildung auf, und welcher Bewerber dieses Alters wird überhaupt angenommen? Wer kann heute schon in der Mitte des Lebens zwei Jahre Rente beziehen, für die er die entsprechenden Beiträge bereits eingezahlt hat?

Menschen können über sich hinauswachsen – aber kann es eine Gesellschaft, deren Strukturen allzu fest verankert erscheinen? Von dem Optimismus, den Vuillemin und Lau verbreiten, könnte unsere Gesellschaft mehr gebrauchen. Dafür müssen wir lernen, häufiger »Ja« zu sagen. Übrigens: Der Rezensent ist vor Kurzem 77 geworden.

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