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Schöne Experimente, elegante Theorien

Dürfen wir einer Naturerklärung umso stärker vertrauen, je mehr sie uns ästhetisch überzeugt?

Kürzlich hat die Theoretische Physikerin Sabine Hossenfelder in ihrem Buch »Das hässliche Universum« energisch bestritten, dass ästhetische Kriterien in der Naturforschung etwas zu suchen haben. Jetzt behauptet der Wissenschaftsphilosoph Olaf L. Müller das glatte Gegenteil: Neue Experimente und Theorien üben ihm zufolge immer auch eine ästhetische Wirkung aus, überzeugen durch ihre »Schönheit« erst den Forscher selbst, dann die Zeitgenossen und setzen sich damit wissenschaftshistorisch durch.

Eingangs sammelt der Autor, der als Professor für Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie an der Berliner Humboldt-Universität arbeitet, ein buntes Sammelsurium von Physikerzitaten. Während beispielsweise der britische Quantentheoretiker Paul Dirac die Schönheit einer Theorie für ein echtes Wahrheitskriterium hielt, wertete der US-Physiker Steven Weinberg sie bloß als ein Indiz dafür, dass es sich lohnt, der Sache weiter nachzugehen.

Ellipsen statt Kreise

Unklar bleibt, was überhaupt die Schönheit einer Theorie ausmacht und wie sie wirkt. Anhand des »Mysterium Cosmographicum«, eines Frühwerks des Astronomen Johannes Kepler (1572-1630), behauptet Müller, Kepler sei hier als purer Ästhet vorgegangen, indem er die »idealen« – besonders symmetrischen – platonischen Körper so schön ineinanderstapelte, dass deren Umfänge ganz von selbst halbwegs den Bahnen der damals bekannten Planeten entsprachen. Doch tatsächlich orientierte sich Kepler an den empirischen Daten des Kopernikus (1473-1543), als er sein Modell des Sonnensystems bastelte. Zwar versuchte er die Schachtelung der platonischen Körper wirklich so lange umzuordnen, bis alles einigermaßen zu den vorhandenen Planetenumlaufdaten passte. Weil das aber letztlich nicht gelang, warf er später die antik-mittelalterliche Norm, wonach nur der Kreis als vollkommen und heilig galt, über Bord. Denn er hatte erkannt, dass die Planeten nicht Kreise beschreiben, sondern Ellipsen.

Schon dieses Beispiel zeigt, dass der Ästhetik bei der Theoriebildung bestenfalls eine heuristische Rolle zukommt – und dass sie manchmal sogar die Erkenntnis bremst. Man probiert mehr oder weniger »schöne« – das heißt kompakte und elegante, einfache und mächtige – Modelle aus, bis sie einigermaßen (und manchmal überraschend gut) zu den Daten passen. Das ist das ganze Geheimnis der Schönheit in der Naturforschung, um das Müllers Buch in immer neuen Zyklen und Epizyklen rotiert.

Dabei ist Kepler nur das Vorspiel. Im Hauptteil des Buchs kommt der Autor auf sein eigentliches Steckenpferd zu sprechen, die von Goethe kontra Newton propagierte Farbenlehre. Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) leugnete bekanntlich vehement die Erkenntnis Isaac Newtons (1643-1727), dass sich natürliches »weißes« Licht aus den Farben des Spektrums zusammensetzt. Diese Einsicht war zu Goethes Zeiten bereits 100 Jahre alt, vielfach belegt und unter Optikern unumstritten. Der Dichter nahm jedoch an, die Farben entstünden durch Trübung des reinen weißen Lichts, durch Wechselwirkung von Hell und Dunkel, als farbige Schatten.

Der Autor stellt Newton und Goethe als Naturforscher auf eine Stufe, indem er fragt, was gewesen wäre, wenn Goethes Farbenlehre zuerst entstanden wäre und Newtons Optik später hätte dagegen antreten müssen. Müller malt sich dafür allen Ernstes eine Theorie der »Dunkelstrahlen« aus, die dann vielleicht an Stelle der Lichtstrahlen zur Basis der Optik geworden wäre. Das spricht nicht nur der Empirie Hohn, sondern hat auch eine unfreiwillig komische Note. Denn es erinnert an eine Comicfigur aus den Micky-Maus-Heften: »Daniel Düsentrieb« erfindet unter anderem das Dunkellicht, eine rabenschwarze Glühbirne zur Verdunklung heller Räume.

Das umfangreiche Buch zitiert zahlreiche Beispiele aus Literatur, Malerei und Musik, die für eine Wesensverwandtschaft künstlerischer und naturwissenschaftlicher Tätigkeiten sprechen sollen. Doch den entscheidenden Unterschied nennt Müller nicht: Der ästhetische Wert eines Kunstwerks spricht für sich; der ästhetische Reiz einer wissenschaftlichen Theorie aber bedeutet gar nichts, solange er sich nicht an empirischen Daten bewährt.

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