Auf der Suche nach Ursachen
Es ist schwer, ein Buch über psychische Probleme zu schreiben – vor allem über seine eigenen. Der britische Journalist und Autor Johann Hari hat es dennoch gewagt. Darin schildert er eindrücklich, wie er seit seiner Kindheit immer wieder scheinbar grundlos in Tränen ausbrach und erst als Jugendlicher einen Namen für sein Leiden bekam: Depression. Neben der Diagnose erhielt er von dem behandelnden Psychiater das Rezept für ein Antidepressivum. Denn die Neurotransmitter in seinem Gehirn seien aus dem Gleichgewicht geraten. An dieser Erklärung hielt Hari sich nun jahrelang fest und schluckte die Pillen, die ihm aber nie langfristig Linderung verschafften. Schließlich machte er sich auf, um selbst eine Lösung zu finden. Er besuchte eine Amish-Gemeinde, die dem modernen Leben entsagt; einen ehemaligen Junkie, der heute Neurowissenschaftler ist; sozial benachteiligte Berliner, die gegen steigende Mieten protestierten und so Gemeinschaft und Sinn finden; und er bestieg mit einer Primatologin einen Berg.
Abgeschnitten von wichtigen Verbindungen
Auf seinen Reisen machte er sieben Ursachen für Depressionen und Ängste aus. Wir seien abgeschnitten von sinnvoller Arbeit, unseren Mitmenschen, sinnvollen Werten, unseren Kindheitstraumata, gesellschaftlichem Ansehen, der Natur und einer hoffnungsvollen Zukunft. Um uns von Traurigkeit und Angst zu befreien, schreibt er, müssten wir diese Verbindungen wiederherstellen. Etwa durch Gemeinschaft mit anderen, eine Abkehr von oberflächlichem Materialismus und eine freiere Berufswahl, wie sie ein bedingungsloses Grundeinkommen möglich machen könnte. Das schildert der Autor in 22 Kapiteln. Er kommt zu dem Schluss, dass negative Erfahrungen und schlechte Lebensbedingungen Depressionen und Ängste verursachen. Dass bei diesen Erkrankungen die Neurobiologie eine Rolle spiele, sei bloß eine Lüge, die uns Experten seit Jahrzehnten auftischten. Und – man ahnt es – die Pharmaindustrie stecke mit drin.
Was Hari bei alldem übersieht, ist, dass Psyche und Biologie ineinandergreifen und alles, was wir erleben, zugleich Veränderungen in der Hirnchemie hervorruft. Zwar gab es in den letzten Jahren teils ernüchternde Befunde zur Wirksamkeit von Antidepressiva, etwa von Irving Kirsch, einem Psychologen, den Hari auch zitiert. Neuere Metaanalysen zeigen allerdings, dass Antidepressiva vor allem bei bestimmten Patientengruppen sehr wohl wirken. Psychopharmaka retten Leben. Die Idee, dass Depressionen auf einen Mangel des Botenstoffs Serotonin zurückgehen, ist allerdings – wie der Autor richtig konstatiert – längst veraltet und wird der Komplexität unseres Denkorgans nicht gerecht. Vermutlich kommt es bei Depressionen zu vielen funktionellen und strukturellen Veränderungen des Gehirns, die wir noch nicht genau durchschaut haben.
Im besten Fall können Betroffene aus dem fesselnd geschriebenen Buch Inspiration und Hoffnung schöpfen, im schlimmsten Fall schürt die Lektüre Angst vor Antidepressiva. Leider tut Johann Hari so, als gäbe es keine Psychotherapie, die sehr wohl seelische und soziale Faktoren psychischer Erkrankungen berücksichtigt. Es entsteht der Eindruck, er wolle eine Verschwörung konstruieren. Dabei ist das, was er als große Offenbarung darstellt, in Wahrheit lange bekannt.
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