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Ein virtuelles Museum der Elektrizität

"Ich meine, dass das Unbehagen an der Wissenschaft vor allem dadurch zu Stande kommt, dass dieses Unternehmen es verlernt hat, neben der logischen Erkenntnis, die sie glänzend und großartig liefert, auch die sinnliche Erkenntnis zu berücksichtigen, die es komplementär zu ihr gibt." Dieser Satz von Ernst Peter Fischer steht als Motto auf der Medaille für Naturwissenschaftliche Publizistik, die ihm 2004 von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft verliehen wurde und die zu den vielen Ehrungen des renommierten Wissenschaftshistorikers und Bestsellerautors gehört.

"Das große Buch der Elektrizität" ist in der Tat etwas für die sinnliche Erkenntnis: Großformatig und opulent ausgestattet, bietet es einer beeindruckenden Fülle an Bildern und Texten Raum, welche die Geschichte des Elektromagnetismus anschaulich und fesselnd vor Augen führen. Die Bilder ziehen den Leser gleichsam in ein virtuelles Technikmuseum hinein; und wie es sich für ein Museum gehört, vermittelt das Buch einen ersten Eindruck von der allgemeinen kulturellen Bedeutung dieser Technik und ihrer grundlegenden Ideen. Es macht Lust auf die Wissenschaft von der Elektrizität und deren Geschichte, weil es dem Leser nicht abverlangt, sich in die physikalischen und technischen Grundlagen einzuarbeiten.

Zunächst fallen die historischen Zeichnungen ins Auge: erste Versuchsanordnungen zur Erzeugung und Messung der Elektrizität mit Bernstein, Draht, Spule und Metallplatten; verschiedene Generationen von Generatoren, Motoren, Akkumulatoren und Transformatoren; Straßenbahnen und elektrisch betriebene Autos Ende des 19. Jahrhunderts, moderne Elektronik mit Halbleitertransistoren und schließlich integrierte Schaltkreise. Zum Ende des Buchs hin ersetzen immer mehr Fotos die Zeichnungen – nicht nur, weil sie aus jüngeren Zeiten leichter verfügbar sind, sondern auch, weil kein einzelner Erfinder mehr so komplexe Anwendungen wie einen Mikrochip oder eine moderne Anlage zur Energieerzeugung zu zeichnen vermöchte.

Die leicht lesbaren und mit vielen Überraschungen aufwartenden Texte betten die Bilder in eine reflektierende und kommentierende Erzählung zur Chronologie der Ereignisse ein. Sie sind in thematische Abschnitte gegliedert, entsprechend den Darstellungsansätzen der modernen historischen Forschung. Dabei veranschaulichen die Bildunterschriften und geschickt eingestreute Zitate immer wieder neue Aspekte: Fein dosiert werden neben den historischen und kulturellen Zusammenhängen auch Funktions – oder Bauprinzipien erörtert.

Im Einleitungskapitel führt Fischer als roten Faden die "Dualität" der Anziehung und Abstoßung zwischen den elektrischen und magnetischen Polen ein, mit ideengeschichtlichen Andeutungen zur Denkweise der romantischen (Natur-)Philosophie, die – implizit  – darauf hinweisen, warum in der Philosophie eines Aristoteles oder Albertus Magnus die Elektrizität des Bernsteins nicht erklärbar war.

Aus Spektrum der Wissenschaft 03/2012
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Der Hauptteil beginnt mit den physikalischen und technischen Entwicklungen im historischen Kontext, von der Entdeckung der Eisenanziehung einiger Gesteine in der Umgebung des antiken Magnesia bis zur Erfindung des Dynamos; es folgen die verschiedenen Aspekte des Stroms der fließenden Elektronen, von der Umwandlung elektrischer Energie in mechanische Arbeit bis hin zu Einsteins Erklärung des fotoelektrischen Effekts, die einen bedeutenden Beitrag zur Quantentheorie lieferte, zu den elektrischen Aktionspotenzialen in den Nervenzellen und schließlich zur Elektronik, die heute in Computern zum Einsatz kommt.

Selbst so schwierige physikalische Themen wie die maxwellschen Gleichungen werden zum Betrachten als Formeln auf einer Tafel einladend ins Bild gesetzt. "War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb?" Bei diesem Zitat aus Goethes "Faust", das die Bewunderer Maxwells umdeutend auf seine Gleichungen bezogen, darf der Leser erst einmal verschnaufen, ehe es an die historische Bedeutung, die vier Formeln in der heutigen Fassung und ihre physikalische Deutung geht. Man kann in den Gleichungen Symmetrien und Asymmetrien sehen, ohne verstehen zu müssen, wie die Veränderungen des elektrischen und des magnetischen Felds in elektromagnetischen Wellen zusammenhängen und wie sich die Quellen beider Felder unterscheiden: Es gibt elektrische, aber keine magnetischen Monopole.

Auch fehlerhafte Experimente bringen die Wissenschaft voran

Für Experten sind die Abbildungen eine Fundgrube, aber die Erläuterungen werden ihnen bisweilen zu oberflächlich bleiben. Pädagogen mögen bemängeln, dass die Formelsymbole etwa in den maxwellschen Gleichungen nicht vollständig erklärt sind.

Historiker könnten einwenden, dass nicht die historische, sondern die moderne Fassung dieser Gleichungen zitiert ist oder dass Fischer methodisch problematische Experimente wie Millikans Öltröpfchenversuch oder die bislang einzige Messung eines magnetischen Monopols erwähnt, ohne auf die weitere Entwicklung einzugehen. Immerhin gab es in Millikans Originaldaten gar nicht die eindeutige Verteilung der Messpunkte, mit der sich die Elementarladung verlässlich hätte bestimmen lassen, aber der amerikanische Physiker hatte die richtige Intuition, und Wiederholungen des Experiments konnten dem Mangel abhelfen. Dagegen sind alle weiteren Versuche, einen magnetischen Monopol nachzuweisen, fehlgeschlagen. Diese Experimente illustrieren, wie wissenschaftlich -technische Entwicklung auch durch methodisch ungesicherte oder gar fehlerhafte Daten fortschreitet.

Bei den historischen Abbildungen hätte man sich zusätzlich zum urheberrechtlich korrekten Verweis auf Bildagenturen eine konsequente Nennung der Quellen nach dem Standard historischer Fachbücher gewünscht. Naturwissenschaftler und Technikexperten hätten möglicherweise eine tiefer gehende Behandlung der Themen ihres Fachs bevorzugt. Und Geistes- und Sozialwissenschaftler werden sicherlich nicht jeder Deutung des Autors zustimmen.

Dieses Buch ist jedoch für den Laien geschrieben, der sich für Elektrizität interessiert, aber die physikalisch -technische Materie eher links liegen lassen will. Ihm bietet es einen lesenswerten Überblick, mit vielen überraschenden und bereichernden Einzelheiten.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 3/2012

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