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Unterwegs zum Ich

Die Uffizien, Ponte Vecchio, il Duomo – Florenz bietet an jeder Ecke eine Sehenswürdigkeit. Überwältigt von so viel Schönheit erlitt der französische Schriftsteller Stendhal dort 1817 einen Ohnmachtsanfall und prägte damit den Namen des "Stendhal-Syndroms". Dass allein die Kunst der Grund für die Schwächeattacke war, zieht Autor Jens Clausen in Zweifel. Immerhin sei bisher noch kein Einheimischer beschrieben worden, den die kulturelle Vielfalt derart überwältigt hätte. Die Touristen aber geraten mitunter in einen gefährlichen Rausch.

Kann man auf Reisen sogar verrückt werden? In tropischen Krankenhäusern, so der Autor, sei die häufigste Einweisungsdiagnose akute Verwirrung. Dennoch sind Statistiken zu derlei Phänomenen bisher kaum vorhanden. Clausen analysiert daher autobiografische Texte von Reisenden, darunter die literarischen Zeugnisse berühmter Persönlichkeiten: Beklemmungsgefühle bei Imre Kertesz, Depressionen auf Grund von Trennungserfahrung und innerer Zerrissenheit bei Albert Camus sowie psychische Krisen mit Verfolgungswahn bei August Strindberg. Auch Leben und Werk von Rainer Maria Rilke und Friedrich Hölderlin deutet der Autor mit psychoanalytisch geschultem Blick.

Wieso gerät mancher Urlauber gerade dort in eine Krise, wo er sich Entspannung erhofft? Auf Reisen wird der Mensch erneut zum Kind: Voller Neugier und Entdeckerfreude auf der einen Seite, schwach und unsicher auf der anderen. Ähnlich wie beim Prozess des Erwachsenwerdens stehen sich die Notwendigkeit von Bindung und die Sehnsucht nach Autonomie und Weiterentwicklung gegenüber. Eindringlich beschreibt Clausen, wie auf Reisen nicht nur die äußere Fremde, sondern auch die innere Einsamkeit erfahren wird. Es fehlen die gewohnten Strukturen; stattdessen wird der Tourist von neuen Erfahrungen überflutet.

In diesem Spannungsfeld entstehen Glück und Verzauberung, aber auch Angst und Panik. Nicht nur seelisch labile Menschen können diese Erfahrungen verwirren und überfordern. Um den Verlust vertrauter Strukturen zu bewältigen und die eigene Identität zu bewahren, braucht der Reisende umso mehr eine sichere innere Orientierung. Wenn sich starre, alte Muster lösen, Verpflichtungen wegfallen und das Selbst neu erfahren wird, kann das Reisen aber auch eine befreiende Wirkung haben.

Wohin ein Ortswechsel die Seele führen kann, schildert Clausen mit wissenschaftlicher Präzision und spickt dies mit vielen philosophischen Überlegungen. Das Ergebnis ist ein aufregendes Buch, das mit einer Fülle gut recherchierter Informationen aufwartet und mutig ein Thema aufgreift, das der Touristikindustrie nicht gelegen kommen wird. Aber Jens Clausen verteufelt die Reiselust nicht, sondern fügt ihr wichtige Aspekte hinzu: Wer nach dieser Lektüre in ferne Lande aufbricht, wird die Reise und ihre Wirkung wahrscheinlich viel bewusster wahrnehmen.

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  • Quellen
Gehirn&Geist 06/2007

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