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Wertschätzende Begegnung

Psychiater, Neurobiologen und Therapeuten betrachten Menschen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Oft streiten sie über die "richtige" Sichtweise oder ignorieren gar die Perspektiven der Kollegen. Der Kölner Psychiater Thomas Schmitt fordert alle Beteiligten auf, auch fachfremde Positionen zu respektieren und sich darüber auszutauschen.

Fremde Fachgebiete gedanklich zu durchdringen sei allerdings keine leichte Aufgabe. Nicht, dass es an Informationen mangle – eher im Gegenteil. Schmitt versucht, Verständnisbrücken zu bauen. Dabei betrachtet er das Gehirn in erster Linie als Organ, das auf soziale Beziehungen spezialisiert ist und selbst durch diese geformt wird.

Der Weg zu unserem heutigen Wissen führt durch die Geschichte der psychologischen und neurobiologischen Forschung: von Hippokrates’ Vier-Säfte-Lehre zur Erklärung menschlicher Temperamentsunterschiede über die Entwicklung der Psychoanalyse bis zu den Split-Brain-Operationen, in denen der Balken zwischen den beiden Hirnhemisphären durchtrennt wird.

Potenzial für sozialpsychiatrische Interventionen sieht der Autor vor allem dank Erkenntnissen aus der Neurobiologie: Nervenzellen und Hirnareale bleiben ein Leben lang formbar. Veränderungen im Gehirn können Erkrankungen verursachen wie auch umgekehrt Störungen des Erlebens und Verhaltens die neuronalen Netzwerke beeinflussen. Wie genau dies vor sich geht, weiß niemand.

Die Frage nach Henne oder Ei erscheint dem Leser aber gar nicht so wichtig, denn das Buch liefert viele Anregungen, die vor allem eines erleichtern: im Sinn des Patienten zu handeln. Ausführlich widmet sich Schmitt einzelnen Störungsbildern wie Demenz oder Depression und deutet Fallbeispiele, die in ihrer Lebendigkeit unter die Haut gehen. Ohne das Leid der Betroffenen zu verharmlosen, weist der erfahrene Arzt darauf hin, dass es auch in Krisenzeiten möglich ist, Lebensqualität zu bewahren. Verständnis für die Patienten erhebt er zum Grundprinzip.

Daneben sei Zuwendung der entscheidende Faktor, der die Medikamentengabe ergänzen, oft sogar ersetzen könne. Eindrucksvoll fasst der Psychiater und Psychotherapeut zusammen, wie umfassend sich eine wohlwollende Begegnung auf alle Bereiche des menschlichen Lebens auswirken kann.

Auch auf die Frage "Warum gerade ich?", die sich viele Betroffene stellen, gibt Schmitt Antworten. Den Tod eines nahestehenden Menschen etwa erlebt jeder als schweren Schock. Aber wer für Stresssituationen schlechter gerüstet ist, benötigt mehr Zeit, um sich von ihnen wieder zu erholen. Frühkindliche Traumata behindern diesen Prozess ebenso wie bestimmte Genkonstellationen, die bei einer angeborenen Neigung zu depressiven Reaktionen häufig vorliegen.

Der Autor begrenzt seine Zielgruppe schon im Titel auf Menschen, die in psychosozialen Berufen arbeiten. Damit schränkt er seine Leserschaft allerdings unnötig ein, denn auch psychisch Kranke und deren Angehörige könnten von der Lektüre profitieren. Schmitts Kredo, jedem Patienten wertschätzend begegnen zu wollen, lässt spüren, dass der Psychiater nicht nur über ein breites Wissen verfügt, sondern auch über Neugier und Begeisterung für den Menschen und seine Geheimnisse.

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  • Quellen
Gehirn und Geist 4/2009

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