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Dreifacher Blick auf unsere Vergangenheit

Als Sir William Jones, weiland Richter in Kalkutta, 1786 in einem Vortrag vor der "Asiatic Society" konstatierte, kein vernünftiger Mensch könne daran zweifeln, dass unter anderem Latein, Griechisch und Sanskrit einer "gemeinsamen Quelle" entsprungen seien, die "wahrscheinlich nicht mehr existiere", markierte das, so die einschlägigen Lehrbücher, den Beginn der indogermanischen Sprachwissenschaft. Sie nahm im 19. Jahrhundert einen rasanten Aufstieg und erwies sich als höchst effizientes Instrumentarium, um Texte bis dahin unbekannter alter Sprachen zu entschlüsseln: Es gelang den Sprachforschern, ein längst ausgestorbenes Volk, die Hethiter, wieder zum Sprechen zu bringen, nachdem feststand, dass ihre Sprache ebenfalls der indogermanischen oder, wie man heute bevorzugt sagt, der indoeuropäischen Sprachfamilie zuzuordnen ist.

Nicht selten konnte man hochzufrieden vermelden, dass eine bisher nur rekonstruierte Form nunmehr tatsächlich aufgetaucht war, und damit die Zuverlässigkeit der Methode unter Beweis stellen. Die Klassifikations- und Rekonstruktionsmethoden der Indogermanistik erwiesen sich als ohne Weiteres auf andere Sprachfamilien übertragbar. So fanden die Forscher sprachliche Verwandtschaftsverhältnisse und konnten damit historische Abläufe nachzeichnen, für die es keine schriftlichen Dokumente gibt.

Heute ist es in der deutschen Universitätslandschaft eher still um diese Wissenschaft geworden. Etliche Institute für Indogermanistik sind in den letzten anderthalb Jahrzehnten geschlossen worden; die allgemeine Sprachwissenschaft geht längst ihre eigenen Wege, und zwar mit Siebenmeilenstiefeln. Entsprechend gibt es kaum neuere deutschsprachige Einführungen in die Materie, obgleich sie für die Aufhellung der frühen Menschheitsgeschichte nach wie vor unentbehrlich ist.

In diese Lücke stößt nun Elisabeth Hamel, selbst keine ausgewiesene Indogermanistin, sondern Dilettantin: Liebhaberin im ursprünglichen, keineswegs despektierlichen Sinn des Wortes. In drei Großkapiteln führt sie Archäologie inklusive Vor- und Frühgeschichte, vergleichende Sprachwissenschaft und Genetik zusammen, um die Frage nach dem "Werden der Völker in Europa" zu beantworten. Wir erfahren von Megalithen, Glockenbechern und Bandkeramik, von Lautwandel, Sprachtypologie und Sprachbünden, von Rhesusfaktoren, der molekularen Uhr und der mitochondrialen Eva; damit gewinnen wir schließlich ein umfassendes Bild von Fragestellungen und Arbeitsweise der jeweiligen Wissenschaften und von dem Beitrag, den sie zur Klärung der Leitfrage zu leisten vermögen.

Gelegentlich spülen die Wogen der Begeisterung die Autorin auch in Gefilde abseits der eigentlichen Reiseroute, aber das ist kein Schaden: Den Horizont erweitert es allemal. Im Übrigen empfiehlt Hamel selbst, Teile, die man weniger unterhaltsam findet, einfach zu überspringen, und hat ihr Buch entsprechend angelegt.

Bei einem so ambitionierten Unterfangen kann die eine oder andere Panne kaum ausbleiben. Die Behauptung, erst die Römer hätten eine "Geschichtsschreibung im engeren Sinne" entwickelt, wirft die stirnrunzelnde Frage auf, als was dann die Werke der griechischen Autoren Herodot und Thukydides aufzufassen seien, die zu einer Zeit schrieben, da von römischer Literatur noch nicht die Rede sein konnte. Auch löste der Sieg der Germanen über Varus keineswegs den Zerfall des Römischen Reichs aus; bis Romulus Augustulus, der letzte Kaiser Westroms, von Odoaker in Pension geschickt wurde, dauerte es noch gut viereinhalb Jahrhunderte.

Vor allem aber hätte die Frage nach dem Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit ein wenig mehr Aufmerksamkeit verdient. Gerade in den letzten zwei Jahrzehnten ist die Sprachwissenschaft stark von der Vorstellung abgerückt, die geschriebene Sprache sei ein lediglich abgeleitetes Phänomen, das nur den Blick auf das "Eigentliche", nämlich die gesprochene Sprache, verstelle, und hat sie als Forschungsgegenstand eigenen Werts in den Blick genommen. Wenn Hamel etwa als Beleg für einen Wandel in der Syntax anführt, dass "der heutige Durchschnittssprecher große Verbklammern, wie sie noch bei Heinrich von Kleist oder Jean Paul zuhauf auftreten, vermeidet", so darf man Zweifel daran anmelden, dass der literarische Sprachgebrauch ausgerechnet eines Jean Paul repräsentativ für den Durchschnittssprecher seiner Zeit gewesen sein soll.

Dementsprechend sind zum Beispiel auch die Ausführungen zum Verhältnis von Aussprache und Schreibung nicht ganz auf dem Stand der Forschung; die gängige Ansicht, dass eine Schrift wie etwa die unsere zu einem bestimmten Zeitpunkt die Laute einer Sprache eins zu eins auf Buchstaben oder fixe Buchstabenkombinationen abbilde und dass dieser Zustand grundsätzlich erstrebenswert sei, darf als überholt gelten. Zudem spielt der Unterschied zwischen dem eher abstrakten "Phonem" und dessen je nach lautlicher Umgebung innerhalb des Wortes höchst variabler Realisierung ("Allophone") eine entscheidende Rolle. Hier führt die höchst ehrenwerte Absicht Hamels, die Darstellung möglichst terminolo- giefrei zu halten, zu einer Vereinfachung, die zumindest für meinen Geschmack etwas zu weit geht.

Vermutlich hätten auch Archäologen oder Genetiker an dem einen oder anderen Punkt entsprechende Anmerkungen vorzubringen; grundsätzlich aber ist Hamel ausgezeichnet informiert und achtet erfreulich sorgfältig darauf, gesicherte Erkenntnisse von Hypothesen abzugrenzen. Das ist ihr umso höher anzurechnen, als gerade in diesem Sektor etliche Dilettanten (diesmal im weniger freundlichen Sinne verstanden) die wildesten Spekulationen verbreiten.

Für wen ist das Buch gedacht? Die Einschätzung der Autorin "hauptsächlich für Schüler … ohne einschlägige Vorkenntnisse" ist etwas zu bescheiden. Erwachsene Leser müssen sich das Vergnügen an einem außerordentlich liebevoll gestalteten, flüssig (wenn auch gelegentlich mit Anflügen pädagogischer Betulichkeit) geschriebenen und geradezu opulent mit Abbildungen ausgestatteten Band nicht versagen. Man kann das Buch besten Gewissens allfälligen Nichten und Neffen für den Geburtstagstisch besorgen – aber Vorsicht: Wer der Versuchung erliegt, zuerst selbst ein bisschen darin herumzuschmökern, mag es vielleicht gar nicht mehr hergeben.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 10/2008

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