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Flüchtlingskolonnen aus dem Land der Vernunft

Ein Rezensent sollte Adjektive der Übertreibung wie "epochal" möglichst meiden. Aber manche Bücher verlangen geradezu nach Superlativen. Der schottische Historiker James Webb (1946 – 1980) brachte, noch ehe er sein 30. Jahr vollendet hatte, gleich zwei solcher Werke zu Stande: "The Flight from Reason" (1972), das in den USA als "The Occult Underground" erschien, sowie "The Occult Establishment" (1976), das nun endlich auch auf Deutsch vorliegt (die Übersetzung von "Flight from Reason" ist für September vorgesehen). Das Werk ist – es muss gesagt werden – epochal.

Im ersten Band beschrieb Webb die im 19. Jahrhundert einsetzende Flucht weg von der Vernunft. In einer von Zweifeln geprägten Epoche, die ungefähr von der Niederlage Napoleons bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs reichte, wandten zahlreiche Menschen in Europa und Nordamerika sich vom materialistischen und rationellen Konsens ab und mystischen sowie okkulten Versprechungen zu. Allen voran, so Webb, besannen sich Künstler und Literaten des "verworfenen Wissens", jener – manchmal tatsächlich, manchmal scheinbar – geheimen Einsichten, die keinen Eingang in die akademische Welt gefunden hatten.

Den Hang zu diesen esoterischen Ideen beschrieb Webb als "eine Ablehnung des Establishments, die aus der Unfähigkeit entspringt, die trostlosen Befunde der Wissenschaft über den Platz des Menschen im Universum hinzunehmen". Die Flucht in Geheimlehren wurde so zu einem Versuch, der eigenen Bedeutungslosigkeit zu entkommen und dem Menschen seine "kosmische Relevanz" wiederzugeben.

Die Fliehenden wirkten im "okkulten Untergrund": Sie waren von der Gesellschaft und insbesondere ihren relevanten Positionen ausgeschlossen, sonderten sich sogar selbst durch ihre zurückweisende, hochmütige und elitäre Haltung ab. Doch bereits sie, die subkulturellen Esoteriker, ahnten, dass "tatkräftige Menschen politische Parteien mobilisieren und Okkultisten kraft ihres Naturells aus Träumen ganze Nationen erschaffen können" – ein Schritt, den die Anhänger des "verworfenen Wissens" erst im 20. Jahrhundert wagten und dem Webb im nun vorliegenden Band folgt.

Dabei erlangten diverse Vernunftflüchtlinge plötzlich weltgeschichtliche Bedeutung. Die Gedankenbrücke zu den schrecklichsten Mystikern des 20. Jahrhunderts liegt nahe. Sein Ausgangspunkt, so Webb, sei es gewesen, "einige der Behauptungen über die Beziehungen des Nationalsozialismus zum Okkultismus zu beweisen oder zu widerlegen".

Nun war schon manchen Zeitgenossen bekannt, dass diverse Nazigrößen gerne an esoterischen Luftschlössern bauten. Hitler berauschte sich bereits in jungen Jahren an den rassistisch-fantastischen Hirngespinsten der "Ariosophen" im Wien der Jahrhundertwende, Heinrich Himmler sah sich gerne als Ordensmeister und Wiedergänger des Frankenkönigs Heinrichs des Voglers (876 – 936), und der geistig reichlich labile Rudolf Heß gab sich zahlreichen vermeintlich germanischen und arischen Fantastereien hin.

Insoweit finden sich auch in Webbs Werk keine wirklichen Überraschungen. Sein Verdienst ist es jedoch, den Schleier des Geraunes über rassistischesoterische Geheimbünde wie die Thule- Gesellschaft, diverse Germanen-Orden und andere Hirngespinste zu lüften.

Webb ordnet die Nazi-Spinnereien in einen gesamteuropäischen, ja sogar weltweiten Zusammenhang ein. Und da öffnet sich plötzlich ein Kosmos, in dem alle mit allen irgendwie verbunden sind: Helena Blavatsky (1831 – 1891), die theosophische Künderin des neuen Atlantis, und der stets umstrittene und doch auch heute noch weit gehend respektierte Dämonenkundler Rudolf Steiner (1861 – 1925), besser bekannt als Begründer der Anthroposophie; christliche Sozialisten in Großbritannien und orthodoxe Mystiker aus den Weiten des Zarenreichs – alle finden sich in dem gewaltigen Flüchtlingsstrom aus dem Land der Vernunft.

James Webb, der Tradition der schottischen Aufklärung eines Adam Smith oder David Hume verpflichtet, entwirft diesen Kosmos logisch und kühl, ohne auch nur ein einziges Mal die Schimären der Okkultisten derb zu verhöhnen. Humor aber gönnt er sich. Selten wurden etwa die "Protokolle der Weisen von Zion" mit derart wenigen Worten als Fälschung entlarvt. Webb reicht es, das unheilvolle antisemitische Pamphlet nachzuerzählen: "Und sie verstecken sich noch heute unter der Erde und tarnen ihre düsteren Ziele mit dem Bau von Untergrundbahnen, womit sie ein Netzwerk von Tunneln schaffen, aus denen heraus sie die Hauptstädte Europas in die Luft sprengen können."

Hat das tatsächlich mal jemand im Westen geglaubt? Glauben das heute wieder Tausende und Abertausende im Orient – in Istanbul etwa, wo seit Jahren die U-Bahn ausgebaut wird, um den finalen Verkehrkollaps in der 12-Millionen-Metropole abzuwenden? Können sie behaupten, es zu glauben, ohne dabei laut aufzulachen?

Webb geht in seiner großartigen Untersuchung jedoch weit über die Verschwörungstheorien, Machtfantasien und Wahnideen der völkisch-esoterischen Irrationalisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinaus. Den Hang zur "erleuchteten" Politik, zu einer Politik also, die sich an mystischen oder okkulten Prinzipien orientiert, macht er auch in den großen Gegenbewegungen der 1960er Jahre aus. Unter der Neuen Linken etwa, deren New Yorker Exponent Abbie Hoffmann 1969 verkündete, das Töten eines Polizisten sei ein sakramentaler Akt; oder bei Timothy Leary und seiner LSD-Mystik oder dem Traum von der großen (und entsprechend unbestimmten) Befreiung des Menschen, der selbst die Sciencefiction- Literatur bestimmt.

Als Webbs Werke erschienen, waren sie der akademischen Forschung zu verschroben und den New-Age-Esoterikern zu vernünftig, zu analytisch. Im Jahr 1980 nahm sich der Historiker verarmt und verzweifelt das Leben. Umso erfreulicher ist es, dass nun die deutsche Version zumindest eines Bandes vorliegt.

Leider wirkt die Übersetzung allzu oft befremdlich und holprig. Und wenn aus dem zumindest in Wien weltberühmten Antisemiten und Bürgermeister Karl Lueger (1844 – 1910) plötzlich ein "Carl Lüger" wird, tut es mir beinahe leid, eingangs ein Adjektiv der Übertreibung eingesetzt zu haben – aber nur beinahe.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft, 07/2009

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