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Moral ist keine dürftige Fassade

"Wie du mir, so ich dir", lautet eine der ältesten Weisheiten der menschlichen Gesellschaft. Doch das Prinzip der Reziprozität, also der positiven wie negativen Vergeltung, ist älter als unsere Art selbst. Diese Meinung vertritt zumindest der prominente Primatologe Frans de Waal. Er sieht Moral als etwas Natürliches, tief Verwurzeltes und stellt sich damit gegen die "Fassadentheorie", nach der Moral nur eine dünne "kulturelle Tünche" ist, die das ursprüngliche Böse, Instinktive, eben "den Affen in uns", notdürftig überdeckt.

Entsprechend konzentriert sich seine Beweisführung auf die beiden nächsten Verwandten des Menschen, die Schimpansen und die Bonobos, mit denen der Niederländer seit den 1970er Jahren arbeitet. Anhand zahlreicher Beispiele, teils selbst beobachtet, teils Kollegen zitierend, beschreibt er, wie Kooperation oder gar Tausch von Dienstleistungen, aber auch Rache und Vergeltung bei den beiden Menschenaffenarten funktionieren. Der Schlüssel zu diesem Verhalten sei Empathie: die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen und so mit ihm mitzuempfinden.

Gleich zu Beginn erzählt de Waal von einem weiblichen Bonobo namens Kuni im Zoo von Twycross (England). Sie half einem leicht verletzten Star wieder auf die Beine, nachdem dieser gegen eine Glasscheibe geflogen war. Das eigentlich Bemerkenswerte ist nicht die Tatsache, dass Kuni sich in den Vogel hineinversetzen konnte und ganz genau wusste, was zu tun ist, sondern dass sich ihre Hilfe an eine fremde Spezies richtete, die in freier Wildbahn sogar in die Kategorie "Mittagsimbiss" gefallen wäre. Kunis Verhalten hatte also keinerlei Vorteile für sie selbst. Dieses so genannte zielgerichtete Helfen, wozu auch das Trösten zählt, ist laut de Waal äußerst selten in der Tierwelt, wenn auch typisch für Menschenaffen.

Interessanterweise entwickelt sich bei Menschenkindern die Fähigkeit zu trösten zur gleichen Zeit wie jene, sich selbst im Spiegel zu erkennen, nämlich im zweiten Lebensjahr. Die Beweise verdichten sich, dass Selbsterkenntnis die Voraussetzung für Mitgefühl ist – und in dem Moment ihres Erwachens der Grundstein für Moral gelegt wird. De Waal sieht eine evolutionäre Kontinuität zwischen sozialen Einzelakten wie Trösten, Helfen und Teilen, die Bonobos und Schimpansen beherrschen, und den komplexen moralischen Prinzipien der Menschen. Im Übrigen war schon Charles Darwin der Ansicht, dass die Moral aus sozialen Instinkten geboren wurde, wie de Waal bemerkt.

Die Fähigkeit zum Hineinversetzen in den anderen macht auch die Reziprozität möglich. De Waal konnte durch seine Forschungen am Yerkes-Primatenzentrum in Atlanta statistisch nachweisen, dass Schimpansen mit Dienstleistungen handeln: Sie merken sich über einen längeren Zeitraum, wer ihnen wann bei der Fellpflege geholfen hat (Spektrum der Wissenschaft 6/2006, S. 50). Freundliche Helfer belohnen sie später mit einer Gegenleistung, etwa indem sie ihnen großzügiger Futter abgeben als anderen.

Die Kehrseite dieser Freundschaftsdienste sind Rache und Bestrafung. De Waal berichtet von Bonobos im Zoo von Arnhem (Niederlande), die Gruppenangehörige für Missetaten bestrafen. So wurden zwei Bonoboweibchen fürs Herumtrödeln gemaßregelt, das die Fütterungszeit erheblich nach hinten verschob und so eine negative Konsequenz für die gesamte Gruppe hatte. Ebenso erzählt er von zwei Schimpansen, die sich zusammentaten, um in einem Racheakt das Alphamännchen zu Tode zu prügeln. Ganz wie in der menschlichen Gesellschaft scheint das Zusammenspiel von positiver und negativer Vergeltung die hierarchisch organisierte Gruppe der Menschenaffen im Gleichgewicht zu halten.

Dennoch: In Bezug auf Tiere wie Schimpansen oder Bonobos von "Hass" zu sprechen, wie der Autor es einmal tut, ist wissenschaftlich sehr gewagt. Schließlich ist selbst beim Menschen nicht klar, wie und warum diese Gefühlsregung entsteht und wie sie überhaupt zu definieren ist. Auch überträgt de Waal bisweilen allzu schnell die sozialen Verhaltensmuster der Menschenaffen auf die Strukturen der menschlichen Gesellschaft. Trotzdem ist es ein interessanter Ansatz, den Menschen als eine Mischung aus dem friedfertigen, hedonistischen Bonobo und dem aggressiven, machthungrigen Schimpansen zu sehen. Wie eng die drei Primatenarten tatsächlich miteinander verwandt sind, müssen Verhaltens und Evolutionsforschung in Zukunft noch zeigen.

Typisch für Populärwissenschaftliches aus Amerika, ist das Buch locker geschrieben und entsprechend leicht verständlich. Zugleich ist es ein sehr persönliches Buch: Wenn de Waal die Bonobos, im Gegensatz zu den aggressiveren Schimpansen, als "Hippies der Primatenwelt" bezeichnet, ist zu spüren, wie sehr er an das Gute in ihnen glaubt – und damit auch im Menschen. Es ist kein stringenter Forschungsbericht, sondern eine Ansammlung einzelner Episoden aus dem Affenalltag – einige nur amüsant, andere hochgradig spannend. Man mag ihm einen Mangel an wissenschaftlicher Distanz vorwerfen, doch seine Thesen beruhen allesamt auf knapp vierzig Jahren aufmerksamer Beobachtung – und einem umfangreichen Literaturstudium. Und sie regen zumindest an, einmal genauer über die menschliche Natur nachzudenken.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 06/2007

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