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Superorganismus Honigbiene

"Der Bien?" werden sich jetzt sicher viele von Ihnen fragen. Ist das eine altertümliche Abkürzung für Biene, oder ein anderer Name für die Drohne, das Bienenmännchen? Nein, es ist viel mehr: ein aus dem 18. Jahrhundert stammender Begriff, der das gesamte Bienenvolk bezeichnet. Bereits vor über 200 Jahren hatten die Imker damit ihre Vorstellung ausgedrückt, dass die sozialen Insekten in ihrer Gemeinschaft etwas darstellen, das viel mehr ist und viel mehr kann als das Individuum. "Der Bien – Superorganismus Honigbiene".

Genau so ist die Doppel-CD betitelt, auf der Jürgen Tautz, Professor für Verhaltensphysiologie und Soziobiologe am Biozentrum der Universität Würzburg und Leiter der dortigen BEEgroup, ein faszinierendes und umfassendes Bild des drittwichtigsten Nutztieres der Erde malt. Dabei spannt er einen weiten Bogen von der Jungsteinzeit, aus der die ersten Zeichnungen zur Honiggewinnung stammen, bis zu modernsten Forschungen im Bienenstock unter Einsatz von Lasertechnik und Mikrochips. In insgesamt 26 Kapiteln rollt Tautz die Geschichte der Bienenhaltung und -forschung auf, beschreibt den Alltag in und zwischen den Waben, stellt faszinierende Leistungen wie den optischen Kilometerzähler vor, mit dem die sechsbeinigen Honigproduzenten den Abstand zur Futterquelle messen, und nennt aktuelle Fragen und Probleme aus dem Leben der Immen.

Dabei geht er ausführlich auf vorangegangene Bienenforscher ein, zu denen neben Größen wie Karl von Frisch und Martin Lindauer auch bereits Universalgelehrte wie Aristoteles, Johannes Kepler und Galileo Galilei zählten. Beispielsweise erläutert er den von Karl von Frisch entzifferten Schwänzeltanz im Detail und eröffnet bereits hier neue Sichtweisen, die in herkömmlichen Lehrbüchern schlichtweg fehlen.

Dies alles macht Tautz mit sehr angenehmer Erzählerstimme und in erfrischend lockerer Alltagssprache – seine eigene Arbeitsgruppe nennt er durchweg "die Würzburger Küche" –, bleibt dabei aber immer präzise und detailgetreu. Unerlässliche und zentrale wissenschaftliche Begriffe erklärt er umgehend, zumeist mit Hilfe einer Metapher oder eines Beispiels. So wird das exakt auf die Bedürfnisse des Nachwuchses eingestellte Gelée Royale – das Kopfdrüsensekret, mit dem die Arbeiterinnen die Larven aufziehen – zum Designfood, wabenbauende Bienen zu "Handwerkern, die ihre Ziegel selbst ausschwitzen", das bei der innerstocklichen Kommunikation entscheidend beteiligte Wabensystem zum Comb Wide Web und der zur Wärmeregulation im Stock verwendete Honig schlicht zu Heizöl.

Besonders spannend wird es, wenn der passionierte Immenfan Tautz über das Bienenvolk als Gesamteinheit philosophiert. Dabei verweist er zunächst darauf, dass die heutigen Völker nicht etwa durch die Verwandtenselektion zusammengehalten werden (Bienenschwestern sind bei gleichem Vater untereinander näher verwandt als mit dem eigenem Nachwuchs, allerdings gibt es immer mehrere Väter pro Volk), sondern vielmehr durch ihre Soziophysiologie. Kein Tier kann alle Funktionen ausüben, die den Stock im Ganzen erfolgreich machen, oder noch einfacher – sozusagen tautzscher – ausgedrückt: Eine Biene kann alleine nicht leben, in der Gemeinschaft aber sehr gut.

Die Leistungen eines Bienenvolkes sind so umfassend und komplex, dass sie sogar einem Vergleich mit den höchst entwickelten Organismen der Erde standhalten: den Säugetieren. Bienen temperieren ihre Behausungen auf konstante 36 Grad Celsius – genau wie die Körpertemperatur vieler gleichwarmer Tiere. Königin, Arbeiterinnen, Sammlerinnen, Putzerinnen und Wächterinnen erfüllen eine Vielzahl spezieller Aufgaben, ähnlich den unterschiedlichen Körperzellen bei uns. Und auch zwischen dem oben erwähnten Gelée Royale und der Milch der Säuger lässt sich eine Parallele ziehen. Was liegt daher näher zu sagen als "der Bien ist ein Säugetier"?

Wem dies zur Faszination noch nicht genügt, den müssen nackte Zahlen überzeugen: Bienen sind für achtzig Prozent aller Bestäubungen und über die Koevolution mit den Blütenpflanzen für die Vielzahl an Blumen verantwortlich, an denen wir uns erfreuen können. Sie bereichern die heimischen Obstbauern durch ihre Bestäubungsleistung um vier Milliarden Euro jährlich, fliegen hundert Meter so schnell wie ein Sprinter sie rennt und erzeugen mit dem Honig ein Produkt, dass in jedem Haushalt zu finden ist.

Optisch und akustisch abgerundet wird der Hörgenuss durch ein zwanzig Fotos umfassendes Booklet, für die die Fotografin Helga Heilmann selbst als Biene in einen Stock eingeschwebt zu sein scheint, und einen kurzen Track auf der zweiten CD, bei dem der Hörer dem Alarmdialog der indischen Zwerghonigbiene lauschen kann. Am Ende der zweiten CD angelangt, dürften jedenfalls die meisten Zuhörer so weit sein, den Bien mit offenen Armen im Kreise der eigenen Verwandtschaft zu begrüßen.

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