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Ein merkwürdiges Ding

Was hat die Evolution des menschlichen Gehirns mit Knollen, Wurzeln und Insektenlarven zu tun, und wie hängt sie mit der Menopause und der Erfindung der Großmutterrolle zusammen? Sehr viel – behauptet der österreichische Wissenschaftsjournalist Peter Weber, und er kann seine Behauptung sogar schlüssig begründen.

Das menschliche Gehirn ist ein merkwürdiges Ding: Es ist übermäßig groß, komplex und frisst ungeheuer viel Energie. Warum das so ist, wird üblicherweise damit erklärt, dass die frühen Hominiden in einer Umwelt lebten, die an ihr Denkvermögen erhöhte Anforderungen stellte. Weil sie sich darauf verlegt hatten, systematisch Werkzeuge und Waffen herzustellen, und weil sie darauf angewiesen waren, ihr Handeln gemeinsam zu planen und aufeinander abzustimmen, benötigten die ersten Menschen angeblich reichlich technische und soziale Intelligenz. Und die Evolution lieferte ihnen prompt ein Gehirn mit der entsprechenden Rechenleistung. Nach einer anderen Theorie waren es in erster Linie die zunehmende Komplexität des gesellschaftlichen Lebens und die dafür erforderlichen Fähigkeiten zur Verständigung, Perspektivenübernahme, Interaktion und Kooperation, die die Evolution des Gehirns vorangetrieben haben. Und schließlich gibt es noch die Vermutung, dass ein geistiges Wettrüsten, ein Hobbesscher Kampf aller gegen alle, das Gehirn dazu stimuliert habe, unaufhörlich zu wachsen.

Weber hält von solchen Theorien schon deswegen nicht viel, weil sie verkennen, dass es sowieso kein Tier gibt, dass nicht von einem größeren Denkapparat profitieren würde. In seinen Augen ist ein Umstand für die Menschwerdung des Affen von grundlegender Bedeutung: Das Gehirn eines erwachsenen Menschen frisst allein 20 Prozent der gesamten Stoffwechselenergie, das eines Neugeborenen sogar 74 Prozent. Also muss es den Frühmenschen irgendwann gelungen sein, sich regelmäßig mit kalorienreicher Nahrung zu versorgen und sich auf Kosten eines geschrumpften Darmtrakts ein größeres Gehirn zuzulegen.

Nach herkömmlicher Auffassung hat diese Kost entweder aus Aas oder aus dem Fleisch bestanden, das die Männer als Jäger erbeuten konnten. Etliche Indizien sprechen allerdings gegen diese Auffassung. Zum einen waren die ältesten Hominiden kleinwüchsig und schlecht zu Fuß, und auch mit ihrer Körperkraft war es nicht weit her. Zum anderen verfügten sie weder über genügend Intelligenz noch über schlagkräftige Waffen, um es mit den Raubtieren der Savanne aufnehmen zu können. Weber hält deswegen ein anderes Szenario für viel wahrscheinlicher: Danach sind die Frauen auf die clevere Idee gekommen, nach nährwertreichen Knollen und Wurzeln zu graben.

An der Nahrungssuche waren auch die Großmütter beteiligt, wodurch sie es ihren Töchtern ermöglichten, erheblich mehr Energie für den Nachwuchs aufzubringen. So konnte das Gehirn anders als bei allen übrigen Säugetieren noch lange nach der Geburt weiterwachsen, die Intervalle zwischen den Geburten wurden erheblich kürzer als bei den Menschenaffen, und außerdem stieg die Lebenserwartung. Die Großmütter, die sich um ihre Enkelkinder kümmerten, gaben nämlich auch ihre Langlebigkeitsgene weiter. Und so ist es zu erklären, warum die Menschenfrau fast das einzige Wesen im Tierreich ist, das schon in mittleren Jahren die Fortpflanzung einstellt.

Es fehlen noch die Insektenlarven. Sie sind nicht nur völlig keimfrei, haben einen äußerst hohen Nährwert und liefern Kalium, Phosphor und Magnesium. Im Unterschied zu Fleisch und pflanzlicher Nahrung enthalten sie noch dazu die mehrfach ungesättigten Fettsäuren in Hülle und Fülle, ohne die das exzessive Wachstum des menschlichen Gehirns niemals hätte in Gang kommen können.

Weber befasst sich nicht nur mit der Evolution des Gehirns. Er versucht außerdem zu rekonstruieren, wie sich das geistige Leistungsvermögen der Menschengattung Stufe für Stufe herausgebildet hat. Seiner Auffassung nach waren die intellektuellen Fähigkeiten des Homo habilis noch ziemlich dürftig, da er noch nicht in der Lage war, sein Gehirn mit kalorienreicher Nahrung zu versorgen. Das habe vermutlich erst der Homo erectus geschafft, wodurch er schließlich zu dem Hominiden wurde, der als erster imstande war, sich in die Gedankenwelt seiner Artgenossen hinein zu versetzen, sie virtuos zu imitieren, sich mit ihnen über eine Gestensprache zu verständigen und kulturelles Wissen zu tradieren und zu akkumulieren.

Peter Weber hat die meisten der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, auf deren Erkenntnisse er sich stützt, selbst interviewt oder sie auf ihren Expeditionen begleitet. Und er hat aus diesen Erkenntnissen eine originelle Synthese hergestellt: exzellenter Wissenschaftsjournalismus.

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