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Ein früher Meister der großen Vereinheitlichung

In dem vorliegenden Buch ist es der Autorin gelungen, die beiden konträren Ziele einer Biografie, akribisch die Fakten zusammenzutragen und eine spannende Geschichte zu erzählen, auf das Glücklichste zu vereinen. Daniela Wuensch hat über das Leben von Theodor Kaluza (1885 – 1954) promoviert. Sie hat seine Werke ediert und dürfte daher die gründlichste Kennerin der Materie sein. 716 Seiten Text, davon 42 Seiten Literaturverzeichnis und mehr als 2000 Anmerkungen belegen die Intensität, mit der die Autorin recherchiert hat. Zahlreiche Informationen verdankt sie der Korrepondenz mit dem Sohn und der Tochter Kaluzas sowie mit dem bekannten Mathematiker Detlef Laugwitz. Trotz der Materialfülle ist das Buch keine nüchterne Bestandsaufnahme, sondern bringt Ausblicke in größere Zusammenhänge. So illustriert Wuensch den philosophischen Hintergrund von Kaluzas Forschungen, sie schildert mit Wärme die Situation seiner Lebensstationen, zeigt vielfältige Zusammenhänge zu seiner Zeit auf – sowohl zur Physik als auch zur allgemeinen politischen Situation –, und man bemerkt buchstäblich auf jeder Seite, dass dieses Buch eine Aussage vermitteln möchte, die der Autorin am Herzen liegt.

Der Held der Geschichte ist – zumindest in Deutschland – weniger bekannt, als er es verdient hat. Theodor Kaluza war ein bedeutender Physiker und Mathematiker, dessen Hauptwerk, die Vereinheitlichung von Gravitation und Elektromagnetismus, gerade in den letzten Jahren an Aktualität gewinnt. Neuere Arbeiten zitieren seine Werke vorwiegend im Zusammenhang mit der Stringtheorie. Daneben hat sich Kaluza mit zahlreichen anderen Gebieten befasst, bis hin zu einem solch abstrakten Thema wie der transfiniten Mengenlehre.

Seinem zurückhaltenden und bescheidenen Wesen zum Trotz stand er in intensivem Kontakt mit der Fachwelt. Demgemäß liest sich das Buch auch als "Gelehrtenkalender" wichtiger Persönlichkeiten aus Physik und Mathematik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Namentlich Albert Einstein reagierte zunächst zögerlich auf Kaluzas Theorie, die dieser unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs vorlegte, war aber letztendlich rückhaltlos begeistert.

Das ist bemerkenswert, hatte er doch auf Hermann Minkowskis vierdimensionalen Raum zunächst recht ungehalten reagiert. Und Kaluza erreichte seine Vereinheitlichung durch Beschreibung in einem fünfdimensionalen Raum, wobei die fünfte Dimension zu einem Zylinder "aufgerollt" erscheint – eine bestürzend moderne Idee. Einstein sah in Kaluzas Ansatz allerdings auch mehr einen formalen Trick, jedoch einen von höchster Schönheit und Eleganz.

Daniela Wuensch stellt die fünfdimensionale Theorie sachkundig dar – sie hat schließlich Mathematik und Physik studiert –, und zwar einmal streng formal und dann auch "laienhaft" für diejenigen Leser, die der Mathematik etwas ferner stehen. Allein diese Abschnitte aus dem Buch lohnen die Lektüre, und die Autorin schlägt gekonnt den Bogen zu den modernen Eichtheorien bis hin zu den Stringtheorien.

Im Lichte der aktuellen Diskussion über die Verantwortung des Wissenschaftlers sind die Ausführungen über den Menschen Kaluza besonders bedeutsam. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges blieb Kaluza nicht nur der allgemeinen Kriegshysterie fern, er fand auch eine Nische, in der er nicht selbst schießen musste: Er arbeitete mathematisch an der Schallmessung, wie übrigens auch Max Born. Man errechnet aus dem Abschussknall von Geschützen deren Standort – und kann sein Gewissen mit dem Argument zu beruhigen versuchen, der Gegner könne diese Aktivitäten leicht konterkarieren, indem er auf Gebrauch seiner Geschütze verzichtet. Mathematisch führt die Schallortung auf recht interessante Aufgabenstellungen. Leider waren Kaluzas Beiträge dazu zunächst geheim, und die zugehörigen Unterlagen wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört – ein Lehrstück über Sinn und Unsinn militärischer Forschung.

Es überrascht nicht, dass es Kaluza auch in der Zeit des Nationalsozialismus und insbesondere im Zweiten Weltkrieg gelang, seine geistige Unabhängigkeit zu bewahren. Der entsprechende Teil des Buchs enthält etliche Überraschungen. So erfuhr ich, dass Gustav Doetsch (1892 – 1977), der sich um die Theorie der Laplace- Transformation verdient gemacht hat, ein ehemaliger Pazifist und später sehr aktiver Mitläufer der Nazis, die Berufung des Zahlentheoretikers Arnold Scholz böswillig hintertrieb, bis es Kaluza mit Unterstützung von Helmut Hasse (1898 – 1979) doch gelang, sie durchzusetzen.

Gerade am Beispiel der sehr schillernden Persönlichkeit Hasses zeigt Daniela Wuensch die schwierige Situation eines Wissenschaftlers im Konflikt zwischen dem Motiv, seine Wissenschaft zu befördern, und dem eigenen Gewissen. Ähnlich interessant war für mich, dass sich Wilhelm Blaschke entschieden für den in Ungnade gefallenen Kurt Reidemeister einsetzte. Diese Teile des Buchs sind ein ungemein lehrreiches Studienmaterial für das Verhalten von Wissenschaftlern in einer schwierigen Zeit.

In drei "philosophischen Abschnitten" zeichnet die Autorin die Entwicklung von Kaluzas Ansichten nach. Ursprünglich Kantianer, sowohl der These von der Erkennbarkeit der Welt und ihrer Beschreibbarkeit durch Mathematik als auch der kantschen Ethik verpflichtet, verfiel er durch das Erlebnis des Ersten Weltkriegs, anders als Einstein und viele andere Wissenschaftler, nicht in Kulturpessimismus. Er wandte sich auch nicht dem Positivismus Ernst Machs oder der antinaturwissenschaftlichen, antirationalen und ganzheitlichen "Lebensphilosophie" von Schopenhauer, Nietzsche oder Bergson zu, sondern wurde in seiner ethischen und naturwissenschaftlichen Grundhaltung bestärkt. Die politische Konsequenz aus der Katastrophe des Ersten Weltkriegs war für ihn ein entschiedenes Eintreten für die Demokratie, in welcher der Einzelne die Verantwortung für sein Handeln nicht an Autoritäten abgibt. Seine idealistische Weltauffassung war letztendlich religiös fundiert.

Das Buch ist mit "Herzblut" geschrieben. Immer wieder betont die Autorin, dass sie ein "Anliegen", eine "These" vorträgt. Es handelt sich um eine originelle Sicht auf die Wissenschaftstheorie und die Wissenschaftsgeschichte, die sich von den klassischen Ansätzen von Alexandre Koyré, Thomas Kuhn oder Imre Lakatos abhebt. Das ist mutig, denn derlei ist heute eher verpönt. Während ich in die Kritik an Kuhn und Lakatos begeistert einstimmen kann, scheint mir die von Daniela Wuensch angebotene Alternative eine interessante und ausbaufähige, aber doch vorläufige Arbeitshypothese zu sein.

Immerhin unterscheidet die Autorin deutlich zwischen mitgeteilter Information und ihrer eigenen Meinung. Zu der Begeisterung, die immer wieder in dem Buch spürbar wird, passt auch die Ankündigung, dass die Einnahmen aus dem Buch die Grundlage einer Kaluza-Stiftung werden sollen.

Das Buch erweist sich als wahre Fundgrube für zahllose Entdeckungen – nur einige subjektiv ausgewählte Glanzpunkte konnten hier angesprochen werden. Es vereint unterschiedliche Fassetten der faszinierenden Persönlichkeit Theodor Kaluza und seiner Zeit. Wegen dieser Vielfältigkeit kann man das Buch jedem Leser empfehlen, denn "wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, und jeder geht zufrieden aus dem Haus". Ich gestehe: Das Buch hat mich begeistert.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 9/2008

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