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Neurobiologisches Allerlei

Der berufliche Alltag des amerikanischen Hirnforschers Wilder Penfield (1891 – 1976) dürfte auf die meisten Menschen schockierend gewirkt haben. In den 1930er Jahren sägte der Neurochirurg die Schädel von rund 520 Patienten auf und versetzte ihren grauen Zellen elektrische Stromstöße. Die Betroffenen waren währenddessen bei vollem Bewusstsein – Penfield sprach und scherzte sogar mit ihnen.

Weil das Gehirn selbst schmerzunempfindlich ist, genügte für die Prozedur eine örtliche Betäubung. Sinn und Zweck des Unterfangens: Penfield suchte bei seinen Patienten nach Anfallsherden, die ihre Epilepsie verursachten, um die jeweilige Region schließlich operativ zu entfernen.

Der Ruhm des Chirurgen beruht jedoch nicht auf seiner medizinischen Heilkunst, sondern darauf, was er nebenbei herausfand: etwa dass die Menschen ein Kribbeln oder Kitzeln in den Armen oder Beinen spürten, wenn er bestimmte Stellen im Gehirn elektrisch reizte. Nach und nach erstellte Penfield eine Hirnkarte, auf der sich der gesamte Körper abbilden ließ – mit überproportional großen Arealen für Fingerspitzen und Lippen.

Diese Arbeit war so bahnbrechend, dass sie heute in kaum einem Band zur Hirnforschung fehlt. Nun versuchen die amerikanische Sachbuchautorin Sandra Blakeslee und ihr Sohn Matthew, ein Wissenschaftsjournalist, ein ganzes Buch mit diesem Thema zu füllen. Aber gar so viel geben Penfields Karten nicht her. Die Blakeslees holen also weiter aus – sie möchten mittels der Karten illustrieren, "wie Körper und Geist ineinandergreifen, um unser körperliches, fühlendes Selbst zu schaffen".

Doch was sie als neue Erkenntnisse präsentieren, ist nur eine Mischung aus Altbekanntem: neurobiologisches Allerlei, einige Krankheitsbilder und psychologische Experimente. Wer also nicht blutiger Neuro- Novize ist, trifft auf die üblichen Verdächtigen, darunter den Hirnforscher Vilayanur Ramachandran, der den so genannten Neglect – die eingeschränkte Wahrnehmung einer Raumseite bei bestimmten Hirnschäden – beschrieb.

Damit die Kost leicht verdaulich ist, werden die Seiten gefüllt mit Beispielen aus dem Alltag und dem Erfahrungsschatz von Therapeuten, Hausfrauen und Talkshow-Ikonen.

Zum Beispiel erfährt der Leser, wie es der Moderatorin Oprah Winfrey gelang, mit Hilfe von strenger Disziplin und Aerobic-Kursen abzuspecken. So aufgekratzt und aufmerksamkeitsheischend, wie das Buch daherkommt, wirkt es wie das gedruckte Pendant zu einer bunten Talkshow im Nachmittagsprogramm, die sich auf wissenschaftliches Terrain verirrt hat.

Die Schicksale wechseln so oft wie das TV-Programm, und nichts sagende Infoboxen und Tipps sorgen für weitere Zerstreuung – zum Beispiel die Empfehlung, mehr barfuß zu laufen, weil das angeblich so gesund ist. Der Klappentext verspricht: Dieses Buch werde den Leser lehren, "anders zu denken". Hoffentlich nicht.

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  • Quellen
Gehirn und Geist 9/2009

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