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Stephen Hawking geht aufs Ganze

Niemand verkörpert die theoretische Physik so sinnfällig wie Stephen Hawking. Obwohl sein Leib durch eine unheilbar fortschreitende Krankheit zu fast völliger Bewegungslosigkeit verurteilt ist, bleibt sein Geist unermüdlich regsam. Mit den Pupillen steuert er einen Sprachcomputer, dessen Automatenstimme stets originelle und oft witzige Sätze zu Grenzfragen der modernen Physik äußert. Hawkings bahnbrechende Beiträge zur Theorie Schwarzer Löcher garantieren ihm einen Platz im Pantheon der Physik neben Isaac Newton und Albert Einstein. Und obendrein hat er mit "Eine kurze Geschichte der Zeit" 1988 das wohl erfolgreichste populärwissenschaftliche Buch seit Menschengedenken verfasst.

Schon damals behauptete Hawking, die endgültige Theorie von Allem stehe kurz bevor. Es sei nur eine Frage weniger Jahre oder Jahrzehnte, bis die Vereinigung sämtlicher Naturkräfte in Gestalt eines mathematischen Formelgebäudes gelingen würde. In seinem neuen Buch skizziert der Theoretiker nun die Umrisse dieser universellen Welterklärung. Dabei erweckt er den Eindruck, das Gebäude sei so gut wie fertig und an der Skizzenhaftigkeit seiner Darstellung sei nur die Schwierigkeit schuld, mathematische Konzepte umgangssprachlich zu umschreiben.

Hawking unterschlägt freilich, dass der "große Entwurf" bis auf Weiteres pure Theorie bleibt, das heißt eine Umrisszeichnung ohne empirisch gesichertes Fundament. Und sogar als reine Theorie ist diese "neue Erklärung des Universums" mehr als lückenhaft. Die für Kosmologen peinliche Tatsache, dass das Universum zu 95 Prozent aus unbekannter – "Dunkler" – Materie und Energie besteht, erwähnt Hawking mit keinem Wort.

Auch verschweigt er ein fundamentales Problem der Grundlagenphysik: Die von ihm favorisierte Stringtheorie wird zwar möglicherweise die Große Vereinigung der Teilchenphysik zu Wege bringen, indem alle Partikel als Schwingungen winziger Saiten (strings) erscheinen, aber damit ist die Theorie von Allem kein Stück näher gerückt. Denn dafür müsste auch die Gravitation eingebaut werden; doch deren Theorie – Einsteins allgemeine Relativitätstheorie – sträubt sich hartnäckig gegen eine Formulierung, bei der sich Gravitationsquanten in einem festen mehrdimensionalen Raumzeitgerüst bewegen, wie das die Stringtheorie vorsieht. Vielmehr krümmt die Materie die Raumzeit, die ihrerseits die Bewegungen der Materie bestimmt; in den Stringtheorien gibt es nichts dergleichen.

Zwar existiert – wiederum nur in Umrissen – ein mit der Stringtheorie konkurrierender Ansatz, der die Theorie von Allem über eine Quantentheorie der relativistischen Raumzeit anstrebt, doch diese "Schleifen-Quantengraviation" ist mathematisch ungeheuer schwer zu bändigen, vor allem wenn man versucht, Teilchen und Felder darin zu beschreiben. Über diese Alternative zur Stringtheorie schweigt Hawking sich aus.
In Hawkings gelähmtem Körper steckt offenbar ein heroischer Optimist, der das halb leere Glas der Theorie lieber als halb voll betrachtet. Aus dem Stückwerk unseres Wissens – mit dem er sich unter der Bezeichnung "modellabhängiger Realismus" abfindet – entwirft er die grandiose Vision eines Multiversums ohne Anfang und Ende, in dem unser Kosmos nur als einer unter unendlich vielen figuriert. In dieser Vision hat kein Gott etwas verloren, und der Tod ist nur ein unscheinbarer Übergang.

Ähnlich faszinierende Entwürfe haben mich seinerzeit als Schüler für die Physik begeistert. Auch sie malten das Ziel der umfassenden Welterklärung aus, als liege es zum Greifen nah. In der Realität jedoch erstreckt sich vor dem Forscher an Stelle eines fast fertigen Gebäudes die unübersichtliche Baustelle einer gewaltigen Stadt, an der unzählige Wissensarbeiter emsig werken – und diese Arbeit wird so bald kein Ende finden.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 8/2011

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