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Rechts oder links?

Die wissenschaftliche Welt kennt den mittlerweile 90-jährigen Egon Balas als den großen alten Mann der ganzzahligen Optimierung. Das ist die Suche nach der besten Lösung für ein Problem, dessen Variable nur ganzzahlige Werte annehmen können, zum Beispiel: Ist es besser, für diesen Produktionsprozess vier oder fünf gleiche Maschinen einzusetzen? Oder, etwas abstrakter: Soll der viel zitierte Handlungsreisende auf seiner Tour diese spezielle Straße benutzen (dann steht an der entsprechenden Stelle im Gleichungssystem eine Eins) oder nicht (eine Null)? Einer von Balas’ ersten Doktoranden ist Manfred Padberg, der den Lesern dieser Zeitschrift – gemeinsam mit Martin Grötschel – kombinatorische und insbesondere ganzzahlige Optimierung nahegebracht hat (Spektrum der Wissenschaft 4/1999, S. 76).

Ganz im Gegensatz zu dem Klischee, nach dem die Mathematiker ihre größten Leistungen in jungen Jahren zu erbringen pflegen, hat Balas erst mit 37 Jahren seine ersten Gehversuche in diesem Fach unternommen. Die Zeit davor war für ihn ereignisreicher als für einen Durchschnittsmenschen das ganze Leben, weswegen er sie auf Drängen seiner Freunde im vorliegenden Buch aufgeschrieben hat.

Egon Blatt wird 1922 in eine jüdisch-ungarische Familie in Klausenburg (Siebenbürgen) geboren, das nach dem Ersten Weltkrieg Teil Rumäniens wurde. Aus seiner Kindheit preist er frühe Erfolge im Schachspiel und im Tischtennis sowie vor allem das reichhaltige Kulturleben seiner Heimatstadt, die von einem bunten Völkergemisch bewohnt wird.

Gegen Ende seiner Schulzeit tritt er einem Diskussionszirkel bei, der sich auf gesellschaftliche Fragen konzentriert – und wird Kommunist aus Überzeugung. Inzwischen haben die Nazis die Vorherrschaft übernommen (und Siebenbürgen an Ungarn zurückübertragen), ohne in Ungarn oder Rumänien auf größeren Widerstand zu stoßen. In dieser Situation ist es für den jungen Kommunisten nur plausibel, in den Untergrund zu gehen.

Kleines Detail am Rande: Seine neuen Freunde empfehlen ihm nachdrücklich, seinen Namen – der wegen des deutschen Klangs leicht auf einen Juden schließen lässt – zu ändern; denn auch unter den Kommunisten gibt es einen mehr oder weniger latenten Antisemitismus. So wird aus Egon Blatt Egon Balász.

In der Folgezeit muss er ohnehin aus konspirativen Gründen häufig seinen Namen wechseln, aber das hilft nicht lange: Im August 1944 wird er von der "defensiven Abteilung" (DEF) des ungarischen militärischen Generalstabs für Spionageabwehr verhaftet und wochenlang gefoltert; doch im Gegensatz zu vielen seiner Parteifreunde verrät er keinen seiner Kontakte. Es gelingt ihm, unter den abenteuerlichsten Umständen und Verwendung weiterer falscher Namen zu fliehen und sich schließlich in die Hände der vorrückenden Roten Armee zu begeben.

Inzwischen gehört seine Heimatregion wieder zu Rumänien. Unter der neuen kommunistischen Regierung avanciert der junge Held des Untergrunds, der sich auch noch große Kenntnisse der marxistischen Wirtschaftstheorie angeeignet hat, rasch zu einem Angestellten der rumänischen Botschaft in London. Dort hätte er sicher noch Jahre mit der Beobachtung des Klassenfeinds zubringen können, wenn ihn die britische Regierung nicht sehr bald ausgewiesen hätte – nichts Persönliches, nur ein diplomatischer Vergeltungsakt für eine Ausweisungsaktion der Rumänen.

Egon Balas – inzwischen hat er seinen Namen der rumänischen Sprache angepasst – kehrt im März 1949 nach Bukarest zurück. Er arbeitet in verschiedenen Positionen der Regierung, immer noch überzeugter Kommunist und bestrebt, seine Fähigkeiten für den Aufbau der Planwirtschaft einzusetzen, obgleich auffällig viele seiner Parteifreunde von der Bildfläche verschwinden und etliche von ihnen auf einmal die unglaublichsten Verbrechen gestehen und daraufhin hingerichtet werden. 1952 findet er sich in einem parteiinternen Machtkampf auf der Verliererseite wieder und wird verhaftet, diesmal von der Securitate, dem berüchtigten rumänischen Geheimdienst.

Nun ist auf einmal die Tatsache verdächtig, dass er den Statthaltern der Nazis entronnen ist. Mehr als zwei Jahre nehmen ihn seine Vernehmer in die Mangel, ohne greifbaren Erfolg. Aber wenn in der Zwischenzeit nicht Stalin gestorben wäre, dann wäre Balas wohl kaum lebend aus diesem Gefängnis herausgekommen.

Nach seiner Entlassung nimmt er seine Tochter in den Arm – und muss erst darüber aufgeklärt werden, dass diese Zweijährige nicht die Zweijährige ist, die er vor seiner Verhaftung zum letzten Mal gesehen hat, sondern deren kleine Schwester, von deren Existenz er bisher nichts wusste.

Balas arbeitet weiter über Wirtschaftstheorie und gerät dabei an die Mathematik in Gestalt der damals neuen linearen Optimierung. Sein Vertrauen in den Kommunismus bröckelt zunehmend; aber erst 1964 bemüht er sich ernsthaft um Ausreise. Knapp zwei Jahre und ungefähr 2000 Telefonate später lässt der Staat ihn und seine Familie laufen, und sein neues Leben beginnt, zunächst in Neapel. Nach einigen Zwischenstationen geht Egon Balas (der seinen Namen abermals der neuen Umgebung angepasst hat) schließlich 1967 an die Carnegie Mellon University in Pittsburgh (Pennsylvania), der er bis zu seiner Emeritierung die Treue hält.

Es ist eine überaus lebendige und detailreiche Geschichte. Selbst wenn man in Betracht zieht, dass jeder Held sein eigenes Leben etwas heldenhafter zu sehen pflegt als seine Zeitgenossen, steht der Autor nicht nur als ein genialer Wissenschaftler da, sondern auch als Mensch von geradezu unglaublicher Charakterstärke. Zwei Folterkeller verschiedener Diktaturen mit intaktem Rückgrat zu verlassen, ist wahrlich nicht einfach.

Allerdings hat man, von den individuellen Einzelheiten abgesehen, doch gewisse Déjà-vu-Erlebnisse. So anrührend und schrecklich jeder Einzelfall ist: Dass die Nazis den größten Teil der Familie umgebracht haben, dass die Stalinisten einer ganzen Generation begeisterter Anhänger wenn nicht physisch, so doch seelisch das Rückgrat gebrochen haben und dass es den Übriggebliebenen so unglaublich schwerfiel, das als Terror zu erkennen – das hat man schon so oft gelesen, dass das nächste Schicksal der gleichen Art keinen echten Neuigkeitswert mehr hat.

Eine Anekdote war mir dagegen neu: In seiner Londoner Zeit lässt sich Balas einen Maßanzug fertigen. Der Schneider nimmt 40 oder 50 Maße und verwirrt dann seinen Kunden mit der völlig unpolitischen Frage: "Tragen Sie rechts oder links?" Ich kannte diese Geschichte nur als Witz.

Den damals angefertigten dunklen Anzug hat Balas immer noch. Er trug ihn 1992, als die breiten Aufschläge gerade wieder in Mode kamen, "zum Rektorenball meiner Universität und erntete damit einen großen Erfolg"...

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 10/2012

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