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Ein Leben für die Wissenschaft

"Vom Meeresboden bis zum Weltraum" wäre der treffendere Titel für das Buch gewesen. Es beschreibt die Geschichte der Weltraumforschung in Deutschland und Europa seit den 1950er Jahren. Berichterstatter ist Reimar Lüst, der durch seine erfolgreichen Raketenexperimente zum Direktor eines eigenen Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Forschung und später zum Generaldirektor der Europäischen Weltraumagentur ESA wurde. Diese Kapitel sind eingebettet in die spannungsreiche Geschichte seines Lebens, das vom Christlichen Verein Junger Männer (CVJM) über Hitlerjugend, Kriegsmarine, Gefangenschaft, Studium bis zu Spitzenpositionen in der Selbstverwaltung der Wissenschaft führte.

Der Start des Sputniks im Oktober 1957 zündete ähnliche Vorhaben in den USA (Explorer 1, Anfang 1958) und Europa. Bereits in der Frühphase der europäischen Integration entstand der Wunsch, nach dem Vorbild des CERN eine gemeinsame Weltraum-Institution aufzubauen. In Deutschland waren die Zuständigkeiten im Jahre 1960 noch nicht geklärt. Sie lagen bei einem interministeriellen Ausschuss, dem das Innenministerium mit der Zuständigkeit für Forschungsförderung, das Außenministerium, das Verkehrsministerium und das Atomministerium mit der Federführung angehörten. Atomminister Siegfried Balke besprach bereits 1959 mit der Max-Planck-Gesellschaft ihre mögliche Beteiligung an der Weltraumforschung.

Spielte anfangs das MPI für Physik unter Werner Heisenberg und Ludwig Biermann die Hauptrolle, so wuchs im Jahre 1963 das MPI für extraterrestrische Forschung unter Reimar Lüsts Leitung daraus hervor. Hier wurden zwischen 1961 und 1972 mehr als 60 Raketenstarts vorbereitet. Ziele waren die Erzeugung von künstlichen Kometenschweifen aus Bariumwolken in der oberen Atmosphäre und die Vermessung des Erdmagnetfelds. Fesselnd berichtet Lüst von den Expeditionen zu Start- und Beobachtungsorten in Wüsten- und Polarregionen.

Neben der Forschungsarbeit im Münchner Institut diente Reimar Lüst der Wissenschaft in den 1960er Jahren in vielen Ämtern: Wissenschaftlicher Direktor der European Space Research Organisation ESRO, dann ihr Vizepräsident, Professuren an den Münchner Universitäten, Mitglied und später Vorsitzender des Wissenschaftsrats. Über alle diese Aufgaben und Begegnungen mit der Politik erzählt er in lebendiger Weise, oft mit Selbstironie. Seinen Bemühungen im Wissenschaftsrat verdankt nicht zuletzt das Heidelberger Max-Planck-Institut für Astronomie seinen Gründungsbeschluss im Jahre 1967.

Als Generaldirektor der ESA in den Jahren 1984 bis 1990 hatte er auch das bemannte Weltraumprogramm zu vertreten, dem er eher skeptisch gegenüber stand. Er musste allen Kritikern, vor allem Astronomen, klarmachen, dass im Fahrwasser der bemannten Raumfahrt auch die unbemannte Forschung stark gewinnen würde. Und es galt Unabhängigkeit von den Amerikanern zu erreichen, die sich bis heute gegen jede ernsthafte technologische Zusammenarbeit sträuben. Eingestreut in diese europäische Weltraumkunde sind Lektionen des "Wissenschaftsmachers" Lüst über den Erfolg versprechenden Umgang mit sperrigen wissenschaftspolitischen Gremien und Ministerien der vielen Mitgliedsländer der ESA.

Im Buch wird die Geschichte eines Lebens in Deutschland in wechselvollen Zeiten, von der Weimarer Republik über Nazidiktatur, Besatzungszeit, Bundesrepublik bis ins wiedervereinigte Deutschland erzählt. Geprägt durch ein christliches Elternhaus in Wuppertal-Barmen und die Arbeit seiner Eltern im CVJM, war Lüst einem ersten Netzwerk verbunden, das noch mehrere Male im Leben nützlich werden sollte. Es wird einleuchtend, wie sich ein Jugendlicher aus diesen regimekritischen Kreisen der Hitlerjugend anschloss und sich freiwillig zur Kriegsmarine meldete. Bereits auf einer ersten Fahrt als Ingenieur-Offizier auf U 528 wurde dieses U-Boot nach schweren englischen Angriffen auf den Meeresboden befördert. Lüst überlebte, gerettet von einem englischen Kriegsschiff, sein "zweiter Geburtstag" am 11. Mai 1943.

In vergleichsweise komfortabler amerikanischer Kriegsgefangenschaft begann Lüst sein Studium der Physik und Mathematik in der selbst organisierten Lager- Universität. Bis in diese Lager erreichten ihn kleine Wohltaten des CVJM. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Jahre 1946 konnte er sein Studium in Frankfurt und Göttingen fortsetzen, unter allen Schwierigkeiten der Nachkriegszeit. Die Auswahl des Doktorvaters Carl Friedrich von Weizsäcker war dann eine Weichenstellung für das Leben: Er bekam ein astrophysikalisches Thema. Die Atmosphäre am Institut wurde vom genialen Werner Heisenberg geprägt, Weizsäcker war eher der Philosoph. Nach Lüsts Promotion über Akkretionsscheiben folgten unbeschwerte Forscherjahre mit vielen Einladungen in die USA. Die folgenden Jahrzehnte in der Weltraumforschung sind bereits oben angedeutet.

Im Jahre 1972 wurde Lüst zum Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft gewählt: das schönste Amt der Wissenschaft in Deutschland. Erfolgreiches Wirken im Wissenschaftsrat und Wertschätzung einflussreicher Forscher in der Max-Planck-Gesellschaft haben ihn als "erst" 49-Jährigen in dieses Amt getragen. In dieser Zeit hatte er mit den Auswirkungen der intoleranten 68er-Bewegung an den Hochschulen zu tun. Er lehnte die "Drittelparität" als Irrweg ab, sorgte aber gleichzeitig für Mitwirkung der Wissenschaftler in den Gremien der MPG, ohne das "Harnack- Prinzip" anzutasten. Eine interessante Episode dieser Zeit als Präsident ist die Schließung des "MPI zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlichtechnischen Welt", bis zur Pensionierung geleitet von seinem sich sträubenden Doktorvater von Weizsäcker.

In die beiden vorläufig letzten Lebensphasen fließen alle Erfahrungen und Verbindungen des erfolgreichen Wissenschaftsmachers Lüst ein. Er wurde Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung (1989 bis 1999), ein wichtiges Amt in der auswärtigen Kulturpolitik, in dem ihm Heisenberg vorausgegangen war. Und er war entscheidend an der Gründung der International University Bremen (1998 bis 2005) beteiligt, für die er seinen ersten Schüler aus der Zeit der Bariumwolken, Gerhard Haerendel, als Dekan der School of Engineering and Science gewinnen konnte. Lüsts Ratschläge und seine Reisebegleitung ins Ausland wurden von vielen Politikern eingeladen. Die Universitätsgründung folgte den von Lüst geschätzten amerikanischen Vorbildern, er brachte mit seiner Frau, einer Journalistin der Wochenzeitung "Die Zeit", eigenes Stiftungskapital ein.

Das Buch ist ein Gesprächsbuch. Hier wird ein Leben in fünf politischen Systemen in Deutschland erzählt. Paul Nolte, Professor für Geschichte an der International University Bremen (jetzt FU Berlin) regt nach Einführung in die Zeitumstände seinen Gesprächspartner Reimar Lüst zum Erzählen an. Beide sind auf die zwölf Gesprächsrunden (= Kapitel) durch Nachlesen in Archiven bestens vorbereitet. So entstand äußerst interessante und unterhaltsame "erzählte Geschichte" aus der Sicht eines Gestalters. Über die ersten Jahrzehnte der Weltraumforschung wird man in keinem noch so schönen und teuren Bildband so viel erfahren, wie aus diesem Buch eines aktiven Teilnehmers. Die Verknüpfung der Ereignisse mit den handelnden Personen macht den Reiz des Buchs aus. Die Älteren werden sich mit Schmunzeln an die geschilderten Ereignisse, die Wissenschaftler und Politiker erinnern. Die Jüngeren könnten lernen, wie eine Karriere zum Wissenschaftsmacher verläuft: Neben hoher Begabung, Fleiß und guter Vorbereitung auf alle Ereignisse, sind geniale und berühmte Lehrer während des Studiums von großem Vorteil. Und das lebenslange Knüpfen vielfacher Netze mit wichtigen Personen. Wissenschaft und Politik brauchen einander.

Gibt es gar keine Schwachstellen an diesem höchst empfehlenswerten Buch? Vielleicht: Die bedrückende Teilung Deutschlands, auch in der Wissenschaft, und die glückliche Wiedervereinigung kommen in der ansonsten lückenlosen Zeitschilderung kaum vor, also ein Buch aus bundesrepublikanischer Sicht. Und: Heilbronn, Entlassungsort aus der Kriegsgefangenschaft, war nicht unzerstört, sondern schwer zerbombt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte zur Zeit von Lüsts MPG-Präsidentschaft keine Wissenschaftsbeilage? Doch, die FAZ berichtet mittwochs bereits seit 50 Jahren auf Extraseiten über Natur und Wissenschaft.

Reimar Lüst feierte in diesem Jahr seinen 85. Geburtstag, er ist weiterhin aktiv in einem Max-Planck-Institut. Werden weitere Kapitel folgen?

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  • Quellen
Sterne und Weltraum 12/2008

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