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Wie kommt ein minoisches Siegel ins Watt?

Eigentlich war der Ethnologe Hans Peter Duerr mit seinen Studenten 1994 aus ganz anderen Gründen im nordfriesischen Watt: Er suchte zwischen den Inseln Pellworm und Nordstrand nach der mittelalterlichen Stadt Rungholt. Beim Durchstoßen des Watts mit Stangen kam jedoch höchst Über­raschendes zu Tage: unter anderem einige Keramikscherben, Rohbernsteine, Weihrauch in Form einer Harzträne, vor allem aber ein ovalförmiges minoisches Siegel ("Lentoidsiegel") aus Serpentin mit der Darstellung eines Stiers vorne und eines eingeritzten Schiffs sowie ­Linear-A-Schriftzeichen auf der Rückseite. Dieses datiert der Autor in die Zeitspanne vom Ende des 15. bis in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts v. Chr.

Bereits im Jahr zuvor hatte ein Wattläufer Duerr eine Keramikscherbe mediterranen Ursprungs geschenkt. Einen abgerundeten, durchlöcherten Kalksteinbrocken, zu dem ihm derselbe Wattläufer eine Beschreibung samt Zeichnung lieferte, interpretiert Duerr als Fragment eines Ankers aus antiken Zeiten.

Da ein derartiger Fund unweigerlich ungläubiges Kopfschütteln erregt, legte Duerr einige Keramikfragmente dem mittlerweile emeritierten Spezialisten Hans Mommsen vom Helmholtz-Institut für Strahlen- und Kernphysik der Universität Bonn vor. Die von diesem entwickelte Neutronenaktivierungs­ana­lyse ergab ein Muster, das auch auf zentralkretischem Material aus dem 15. bis 14. vorchristlichen Jahrhundert zu finden ist.

Demnach wären minoische Seefahrer vor etwa 3300 Jahren von der Südküste Zentralkretas aus bis in die Nordsee und damit weit über die Grenzen der damals bekannten Welt hinaus vorgedrungen – eine kühne, aber nicht unmittelbar von der Hand zu weisende These. Immerhin kamen wenige Jahrhunderte später die Phönizier nachweislich bis an die Atlantikküsten Marokkos und Portugals und erwarben Erze aus Spanien; dass sie bis zu den "Zinninseln" (England) vorgestoßen sind, liegt nahe und wird seit Langem diskutiert, wenn auch bisher eindeutige Belege fehlen. Was könnte die Minoer veranlasst haben, zu einer so überaus beschwerlichen und gefährlichen Reise mit ungewissem Ausgang aufzubrechen? Möglicherweise, so Duerr, waren sie auf der Suche nach Rohstoffen wie Zinn und Bernstein, die einfacher nicht zu haben waren.

In erster Linie aber vertritt er die These, es habe sich um eine "Jenseitsfahrt" gehandelt. Der Begriff hat verschiedene Bedeutungen; eine davon ist der Aufstieg in den Olymp. Seit den homeri­schen Gedichten findet sich in der griechischen Literatur die Idee, dass besondere Beziehungen zu den Göttern oder herausragende Qualitäten an sich es ­ermöglichen, dem Tod zu entkommen und unsterblich zu werden. Auch leben nach der Überlieferung einige Heroen, die vor Theben oder Troja kämpften, auf den Inseln der Seligen. Demnach hätten die Seefahrer die Unsterblichkeit oder zumindest unsterblichen Ruhm angestrebt. Duerr nimmt an, dass sie darüber hinaus "sich selber mit den mythischen Prototypen identifiziert haben und als solche gesehen wurden".

Andererseits kann eine Jenseitsfahrt auch eine Reise in die Unterwelt bedeuten. So fährt Odysseus auf den Rat der Zauberin Kirke hin über den Okeanos in den Hades, um den Seher Teiresias nach seinem Schicksal zu befragen. Mehr noch: Duerr stellt die Hypothese auf, die Argonautensage und die Odyssee seien auf eine reale Fahrt wie diese zurückzuführen, und bezieht damit Position in einem seit dem 19. Jahrhundert andauernden, kontrovers geführten Forschungsstreit. Die Diskussion darüber, ob die genannten Mythen auf tatsächliche historische Ereignisse zurückgehen, fand ihren Höhepunkt von 2001 bis 2005 in der Auseinandersetzung zwischen dem Archäologen Manfred Korfmann und dem Althistoriker Frank Kolb. Heute ist sie als Troja-Debatte bekannt.

Mit Hilfe verschiedener Theorien gelangt Duerr im Lauf des Werks von der Argonautensage zu deren mutmaßlichem historischem Kern. Dieser sei in wesentlichen Teilen minoischen Ursprungs. In der Tat finden sich ja auch bronzezeitliche Elemente in homeri­schen Epen.

Duerr ist darum bemüht, das damalige, nach seiner Überzeugung historische Geschehen dem modernen Menschen näherzubringen, indem er es nach seinen Vorstellungen rekonstruiert. Besonders bemerkenswert sind die kulturübergreifenden Betrachtungen, mit denen er seine Ausführungen im gesamten Verlauf des Buchs untermauert. So zieht er Parallelen zu mittelalterlichen und neuzeitlichen Geschehnissen, wobei auch andere mutige See­fahrer wie Kolumbus oder James Cook Erwähnung finden. Zudem finden sich durch das ganze Werk hindurch, besonders in Kapitel 7, Aussagen über die Fruchtbarkeits- und Vegetationsgottheiten sowie über Riten in unterschiedlichsten Regionen und Zeiten. Nur tragen diese Exkurse zur Archäologie nichts bei.

Der wissenschaftliche Apparat aus Anmerkungen, Literaturverzeichnis und Register nimmt fast die Hälfte des umfangreichen Werks ein. 25 farbige Bildtafeln mit Ansichten des Rungholtwatts und Abbildungen der Funde sowie 308 Schwarz-Weiß-Abbildungen im Text ergänzen die Darstellung; Abbildungsnachweise fehlen. Die Publikation ist unverkennbar das Werk eines Ethnologen; sie liefert einige einfallsreiche Theorien zu diversen Fragestellungen. Zudem bereichern und erweitern die Exkurse in die Götter- und Mythenwelt die Lektüre.

Was seine Hauptthese angeht, bleiben allerdings viele Fragen offen. Selbst für Duerr ist die Annahme, die Minoer hätten sich zu so früher Zeit über die Meerenge von Gibraltar, den stürmi­schen Atlantik und den Ärmelkanal bis in die Nordsee gewagt und wären dort lebend angekommen, wohl etwas zu kühn. Ersatzweise schlägt er vor, sie ­wären mit ihrem Schiff einen Fluss zum Beispiel in Spanien aufwärtsgefahren, hätten es an geeigneter Stelle zerlegt und dann über Land weitertransportiert. Das ist auch nicht besonders plausibel.

Zu allem Überfluss liegt Duerr in einem Streit mit den etablierten Archäologen, der von außen kaum zu durchschauen ist. In seinem Nachwort zu dieser Auseinandersetzung geht er so weit, der anderen Seite zu unterstellen, man wolle ihn mit wilden Behauptungen in Misskredit bringen: Die Funde seien ihm untergeschoben oder gar von ihm selbst dort deponiert worden. Dagegen kontern die amtlichen Archäologen, Duerr habe ohne Erlaubnis und damit illegal gegraben.

In dem dicken Wälzer hat Duerr eine Fülle von Fakten aus unzähligen Forschungsbereichen zu einer spannend zu lesenden Geschichte zusammengetragen. Nur ist für jede seiner Theorien das archäologische Material zu dünn. Abhilfe aus dieser allseits unbefriedigenden Diskussion könnte nur eine Gesamtpublikation der Funde zum Zweck einer wissenschaftlichen Untersuchung schaffen.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 6/2012

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